Lese-Eise

Im strömendem Novemberregen fahre ich mal wieder auf Lesereise.
Der ICE steht vier Stunden auf der Strecke. Leider sind die Heizungen ausgefallen. Auch heißen Kaffee gibt es nicht mehr. Dafür verteilt das Zugpersonal erfrischende Kaltgetränke. Ich wickele mich in alle Pullover, die ich besitze. Die Frauen um mich herum tragen Minikleider und dünne Strumpfhosen.
Ich leihe mir ein Handy und rufe das Hotel an, das mir eine Nummer gibt, mit der ich den Safe öffnen kann, der wiederum den Schlüssel enthält. Moderne Technik. Nach drei Stunden nächtlichen Wartens in Bremen, einem besonders gemütlichen Bahnhof, komme ich tatsächlich beim Hotel an.
Hinter einer Säule versteckt finde ich den Safe – einen kleinen Kasten mit Display. Ohne Zahlen. Ich tippe eine Weile frierend auf dem Display herum – nichts passiert, nicht einmal, als ich einen Niesanfall bekomme. Schließlich entdecke ich ein schwarzes Hebelchen, und als ich daran ziehe, geht eine mechanische Klappe auf. Dahinter kommt ein altes Zahlenschloss zum Vorschein.
Von wegen moderne Technik.
In meinem Zimmer steht das Fenster weit offen – ich hätte auch einfach so einsteigen können.
Es ist in jedem Fall schön frisch. Ich lege mich mit Kleidern ins Bett.
Die Bibliothekarin und beide Lehrerinnen der Klasse, für die ich am Morgen lese, tragen modische Kurzmäntel und dünne Strumpfhosen. Ich unterdrücke den beginnenden Husten und freue mich den ganzen Tag auf eine heiße Dusche im nächsten Hotel. Leider gibt es dort kein warmes Wasser.
Der Dame an der Rezeption, die ein Minikleid und dünne Strumpfhosen trägt, kann da auch nichts machen.
Am Tag darauf wird mir gesagt, ich sollte ein Taxi zum Hotel nehmen, das ein Dorf weiter liegt. Ich komme in Dunkelheit und strömendem Regen an. Am Bahnhof gibt es keine Taxis. Glücklicher Weise nimmt eine nette Dame mich mit und setzt mich in einer ebenfalls dunklen Vorortstraße ab. Vor einer geschlossenen Kneipe. „Da hinten ist ein Licht“, sagt sie zuversichtlich.
Ich klettere durch feuchte Büsche und Blumenbeete – und stehe vor einer Terrassentür. Dahinter sieht eine ältere Dame fern. Offenbar bin ich hier falsch… aber nein, die ältere Dame reißt plötzlich die Tür auf und sagt. „Ich hole schnell den Hotelschlüssel, mache die Tür aber solange wieder zu. Um diese Jahreszeit kommen sonst sofort die Mücken ins Haus!“
Das Hotel befindet sich in einer Art Garage nebenan.
Leider haben in meinem Zimmer die letzte Woche über zwei Kettenraucher gewohnt, die ältere Dame hat den ganzen Tag gelüftet. Nun ist es kalt und verräuchert. Ich wage nicht, die Dusche auszuprobieren. Die Wände sind kahl, der Boden gefliest, ich fühle mich ein wenig an ein gewisses Pilgerhotel in Indien erinnert … Zu essen gibt es in diesem Ort abends auch nichts mehr, erklärt mir die ältere Dame, aber sie bringt mir Tee und Lebkuchen. Dankbar sitze ich in zwei Decken gewickelt und trinke den Tee. Auf der Straße gehen zwei junge Mädchen mit Regenmänteln bis kurz über den Po und dünnen Strumpfhosen vorbei.
In Frankfurt, wo ich danach hinfahre, schlägt das Wetter um. Es regnet jetzt von Westen statt von Osten. Der Hauptbahnhof ist voller Frauen in kurzen Kleidern und dünnen Strumpfhosen. Manche scheinen auch nur Strumpfhosen anzuhaben. Wichtig ist offenbar, dass man sie in die Stiefel stecken kann, welche aus labbrigem Stoff mit Plastiksohle bestehen, in die der Regen sofort eindringt. Eine moderne Variante von Fakirtum?
Im Starbucks läuft tatsächlich die Heizung! Aber die Türen stehen offen. Ich niese, bestelle einen Kaffee, niese, hole den Kaffee eine Minute zu spät ab und werde von einer kleinen wehrhaften Asiatin angeschrien, erst auf vietnamesisch, dann auf deutsch, weil sie jemand anderem meinen Kaffee gegeben hat. Verschüchtert ziehe ich mich in eine sichere, aber kühle Ecke zurück und niese weiter. Als ich am nächsten Tag wiederkomme, in der Hoffnung, jetzt vielleicht doch einen Kaffee zu bekommen, sagt der Mann hinter dem Tresen: „Geht es Ihnen heute besser? Gestern waren Sie so komisch.“
Übrigens ist mein Hotel in einem Frankfurter Vorort auch sehr schön. Es liegt an der Ausfallstraße gleich hinter der Tankstelle, man braucht von der U-Bahnhaltestelle nur ein knappes Stündchen durch den Regen zu laufen. Es gäbe auch einen Bus, aber der Busfahrer hält an einer anderen Stelle des Busbahnhofs als der ausgezeichneten und fährt dann fröhlich winkend an den Wartenden vorbei. Im Hotel muss man bar vorauszahlen und wird sehr misstrauisch betrachtet.
„Gibt es ein Telefon auf dem Zimmer?“, fragte ich, denn ich würde gern mal zu Hause anrufen.
„Ja“, sagte die Rezeptionistin. „Aber damit können sie nicht raustelefonieren.“
„Und haben sie internet?“
„Ja“, sagt sie, „aber das funktioniert nur, wenn man es vorher anruft.“
Langsam glaube ich, Nichthandybesitzer werden in Deutschland diskriminiert. Sind die dünnen Strumpfhosen und das Minikleid der Rezeptionistin auch übers Handy programmierbar, um dann elektronisch von innen zu wärmen? Zum Frühstück gibt es leicht feuchte, versteinerte Brötchen. Ich fahre zurück gen Norden.
Leider ist der Zug wieder nicht geheizt, aber die Lüftung, die funktioniert hervorragend.
Im nächsten Ort bin ich zu früh. Das Hotel öffnet erst spätabends. Vorher kann man es, wenn man ein Handy hat, anrufen. Ich gehe mit meinen 20 Kilo Gepäck im Regen spazieren. Und kaufe einen Wollpullover.
„Das ist kein Pullover“, sagt die Verkäuferin. „Das ist ein Minikleid. Am besten trägt man es zu dünnen Strumpfhosen …“
Am nächsten Tag setzt mich die Bibliothekarin auf einem Bahnhof im Nichts ab. Na, der Zug kommt ja schon in ein paar Stunden, und es regnet auch nicht mehr. Jetzt schneit es.
Ich sehe von Ferne eine Bäckerei mit einem Schild „Heißgetränke zum Mitnehmen“ und renne los. Sollte das der erste heiße Kaffee meiner Lesereise werden? Nein, die Bäckerei hat vor einer Minute geschlossen und macht jetzt drei Stunden Mittagspause. Naja.
Jetzt sitze ich wieder in Frankfurt. Ich trage mein Woll-Minikleid, eine dünne Strumpfhose, noch ein Wollminikleid, noch eine Strumpfhose, meine normale Hose, meine Strickjacke, meinen Mantel und … hier gibt es ein Telefon.
„Was ist denn mit dir los?“, fragt meine Mutter am anderen Ende der Leitung erstaunt. „Du hörst dich ja so erkältet an.“