Der Nasenbär brennt!

Letztes Jahr war es Schnee, der zu viel war. Dieses Jahr sind es Pakete.
Sie stapeln sich in unserem Flur, besetzen die Regale, türmen sich vor dem Kamin … alle Leute, bei denen ich gelesen habe oder die etwas von mir gelesen haben, fühlen dieses Jahr den Drang, uns ein Paket zu schicken. Das ist nett, aber es wird zunehmend schwieriger, die Haustür zu finden.
„Und was wünschst du dir zu Weihnachten, Murmel?“
„Ich bin Alva!“, sagt die Murmel. „Einen Engel. Aber einen echten. Einer, der sich bewegen kann.“ Sie malt den Engel also auf ihren Wunschzettel, wobei Malen bei der Murmel eher darin besteht, mir zu erklären, warum sie bestimmte Dinge nicht malt. Der Engel zum Beispiel braucht keine Beine, die sieht man ja nicht unterm Kleid, Finger braucht er ebensowenig, weil er Handschuhe trägt, und eigentlich braucht er auch keine Augen, aber ich überzeuge sie, dass blinde Engel womöglich im Kamin landen. Man stelle sich die Schweinerei vor, überall die versengten Federn! Was der Engel hat, sind Haare. Lang und rosa; logisch.
Der erste Dezember kommt (die Postbotin bringt ein Paket von Oetinger), und die Murmel darf ihren Adventskalender öffnen. Von da an erklärt sie jeden Tag: „Heute ist der erste Dezember“, ehe sie den Kalender aufmacht. Bis Weihnachten gibt es 24 erste Dezembers.
Dann ist Nikolaus (die Postbotin bringt ein Paket von Herder), und ich sage: „Murmel, du musst einen Stiefel rausstellen.“
„Ich bin Alva“, sagt die Murmel. Am nächsten Morgen erkläre ich ihr, dass in ihrem Gummistiefel jetzt etwas drin ist und sie sieht mich an, als ob ich spinne. Klar ist was drin: Regenwasser, das Ding hat ja 12 Stunden lang im knietiefen Morast vor unserer Tür gestanden. Aber schließlich holt sie den Stiefel doch herein. Oh! So viele Nikolaus-Süßigkeiten! Der Stiefel darf nicht ausgepackt werden, findet sie. Er muss aber von nun an überallhin mitgenommen werden, auch aufs Klo und ins Bett.
Der Nikolaus im Kindergarten bringt eine kleine Plastiktüte voller Schokola von der Volkssolidarität und die Postbotin vier riesige Pakete von Alvas Großeltern. Am fünfzehnten Dezember hat der Kindergarten Weihnachtsfeier, und der Weihnachtsmann bringt – Überraschung! – eine Plastiktüte voller Schokolade.
„Murmel“, sage ich, „was ist denn der Unterschied zwischen Nikolaus und Weihnachtsmann?“
„Ich bin Alva“, sagt die Murmel. „Der Weihnachtsmann hat höhere Stiefel.“
„Kommt der jetzt am 24. nochmal?“, frage ich verunsichert.
„Nee“, sagt die Murmel. „Da kommt doch der Engel.“
Ich bestelle also Flügel. Sind die Federn von echten Engeln? Ich habe nicht auf das Ökozertifikat geachtet – gibt es Engel in Massentierhaltung? Und sind Engel aus Bodenhaltung glücklicher oder eher nicht? Auf dem Bild im Internet trägt ein dicker Mann in römischer Tunika und Wadelstrümpfen die Flügel. Das verstehe ich erst, als die Flügel (in einem riesigen Pappkarton) kommen und Fine, eine befreundete 14jährige Engelin, sie anprobiert: Sie wiegen eine Tonne; die Befestigungsbänder sind für adipöse Riesen gemacht. Die Goldlöckchen der Perücke (rosa war ausverkauft) hängen ihr vor die Augen, und auf das Kleid tritt sie unten drauf.
Lintje übrigens wünscht sich eine Tütensuppe, eine Zahnbürste und einen Autoschlüssel – zum Rasseln und Benagen. Die Postbotin bringt einen Umschlag vom Fischerverlag, einen Umschlag vom Bojeverlag, einen von Loewe und einen von Carlsen, und weil ich außer dem Engel noch etwas richtiges verschenken will, besorge ich zwei Tobe-Sitzsäcke. Kann ich ahnen, dass sie in drei-mal-zwei-Meter-Kartons geliefert werden? Die Haustür ist endgültig hinter Paketen verschwunden. Wir gehen jetzt durchs Küchenfenster.
Ich erwäge, die Adressen der Pakete paarweise auszutauschen und sie alle wieder abzuschicken, so dass dann Oetinger das Geschenk von Herder zu Weihnachten bekäme, Boje das von Carlsen, meine Eltern das von Philipps Eltern …
Dann ist der große Tag da. In der Kirche predigt ein erfüllter Jungpfarrer, der im Studium offenbar eingebläut bekam, dass er langsam und deutlich sprechen muss. Er spricht so langsam, dass die Predigt zwei Stunden dauert. Was er allerdings spricht, ist nicht herauszufinden, da er das Mikro falsch herum hält. Schnell nach Hause jetzt! Der himmlische Bote darf nicht verpasst werden!
Unser alter Stoffnasenbär sieht Philipp dabei zu, wie er die Sicherheitskerzen am Baum anzündet.
Und dann kommt der Engel, oh! Er schwebt durch den Garten, er ist wunderschön, er ist weiß, er ist perfekt, er ist einmalig … „Hallo, Fine“, sagt Alva.
„Es riecht so komisch“, sage ich. „Irgendwie angebrannt.“
Philipp stürzt ins Wohnzimmer. Gleich darauf ertönt von dort ein Schrei. „Der Nasenbär brennt!“ Rußwolken breiten sich im Haus aus. Der Engel flieht und stolpert über sein Kostüm, verheddert sich in seinen Flügeln, verliert die Perücke … Philipp wedelt mit dem am Schwanz glühenden Nasenbären … Lintje wirft juchzend mit Brei, die Sicherheitskerzen am Baum gehen, zur Sicherheit, aus. Wir stehen ihm Dunkeln, hustend und fluchend. Als wir den Lichtschalter finden, entdeckt Alva den Sitzsack.
„Und was ist das?“, fragt sie.
„Na ja“, sage ich, „draufstehen tut FATBOY, aber das ist die Firma …“
„Oh!“, ruft Alva begeistert. „Ein Fettbeutel!“
So sitze ich schließlich erschöpft in einem Fettbeutel vor dem unbeleuchteten Baum, im Arm einen angekohlten Nasenbären, von Alva mit bunten Pflastern verarztet. Lintje hat ihren dritten Zahn zu Weihnachten bekommen und nagt sich gerade durch die Krippe, Alva verziert die Bodendielen mit neuen Stempeln und der Plattenspieler singt Oh Tannenbaum auf kubanisch. Wir wünschen, schreiben Oetinger, Herder, Boje, Fischer, Carlsen und Loewe, meine Agentin, 17 Leser, 5 Buchhändler und 2 Bibliothekare – wir wünschen ein ruhiges und besinnliches Fest.