Die Stimme aus dem Untergrund

Neuerdings sagen die Leute, wenn ich sie anrufe, nicht mehr “hallo” sondern “oje”.
Vielleicht liegt es an meiner Stimme. Oder an deren Abwesenheit. Meine Stimme ist nämlich in den Untergrund abgetaucht, und sie wäre eine Stimme aus dem Untergrund, wenn sie sich wieder daraus hervor begeben hätte. Leider ist sie aber dort geblieben. Letzten Montag las ich wie eine rostige Gießkanne. Man gab mir Isländisch-Moos zu lutschen, und ich kam mir vor wie ein Elch. Am Dienstag las ich wie eine rostige Gießkanne, deren Hals mit Kieselsteinen (rostigen Kieselsteinen) verstopft ist. Man empfahl mir Kamille-Rachenspray. Davon bekam ich einen einstündigen Hustenanfall.
Am Mittwoch wachte ich in meinem Hotelbett auf und fieberte. Ich sah aus dem Fenster, da ich mir nicht mehr ganz sicher war, wo ich mich befand. Die Lesung, zu der ich gefahren war, sollte in Freiburg stattfinden. Doch das einzige, das ich in der morgendlichen Dunkelheit erkennen konnte, waren große rote Leuchtbuchstaben, die ZÜRICH verkündeten. War ich im Fieber in den verkehrten Zug gestiegen? Zum Glück stellte sich heraus, dass sich die Schrift am Gebäude einer Züricher Versicherung oder dergleichen befand – einer Versicherung IN Freiburg.
An diesem Tag waren alle Protagonisten in meinen Büchern plötzlich im Stimmbruch. Auch die Frauen. Meine Zuhörer nahmen es als künstlerische Freiheit hin und statteten mich mit einer Picknicktüte voller Globuli aus.
Am Donnerstag beschwerten sich meine Zimmernachbarn, dass die Wand wackelte, wenn ich hustete. Da gab ich auf und fuhr zu meinen Eltern. “Hier!”, rief mir die wohlmeinende Bibliothekarin nach. “Nehmen sie diese Flasche mit, zum Gurgeln! Selbst angerührt: Hochkonzentrierter Salzlösung mit Salbei! Aber auf keinen Fall verschlucken! Hochgiftig!”
Das glaube ich gerne. Ich sagte alle weiteren Lesungen ab und legte mich ins Bett, wo ein kleines Arsenal an Hustensaft, Hustensalbe und Halstabletten wartete. Am Samstag stellte ich fest, dass ich mir beim Husten eine Rippe gebrochen hatte. Das macht nichts, denn der Mensch hat sehr viele Rippen. Schlimmer war, dass die Stimme nicht wiederkam. Am Montag riss ich mich zusammen und schleppte mich zum Arzt, auf dem Weg ein paar Globuli lutschend. An jeder zweiten Hausecke gurgelte ich mit der Salzlösung, die sofort den Gehsteig auflöste, wenn ich sie ausspuckte.
“Meine Stimme”, flüsterte ich, “sie ist untergetaucht. Können Sie sie irgendwo finden?”
Der Arzt sah mir tief in den Rachen. Dann nahm er ein sehr langes Metall-Instrument, griff in meinen Hals und zog ein kleines, zerknülltes Ding heraus. “Sie müssen jetzt sehr stark sein”, sagte er. “Ihre Stimme ist von uns gegangen.
„“Oh”, flüsterte ich betroffen. Ich nahm die Stimme in ein weißes Tuch gewickelt mit nach Hause. Die Beerdigung findet am kommenden Freitag statt. Sie sind herzlich eingeladen. Vielleicht bringen Sie noch ein paar Globuli mit für das Buffet?