Der Zeit-Entsafter

Wenn wir ein Kind haben, haben wir gesagt, wird es bei uns ganz ruhig. Dann gibt es keine wilden Weltreisen mehr, und wir haben endlich für alles Zeit. Mein Mann wird tagsüber in der Klinik arbeiten; ich werde Kuchen backen und staubwischen (auf dem Kuchen), und abends werden wir mit unserem Kind auf dem Sofa liegen, das wir nicht besitzen…. Nun ist das Kind da und mein Mann arbeitet tagsüber in der Klinik. Aber wo ist eigentlich die Zeit?
“Wir brauchen endlich einen Plan!”, sagt mein Mann, während wir im Garten Äpfel pflücken. “Da war so vieles, das wir tun wollten! Das Auto muss zum TÜV, wir wollten endlich einen Tanzkurs machen und herausfinden, wo wir uns beim Babyschwimmen anmelden müssen. Außerdem sollten wir überlegen, wann wir diesen Winter meine Eltern besuchen. Es ginge im November oder auch im Januar. Im Dezember wollten wir ja ein Wochenende nach Berlin.”
“Moment”, sage ich und fülle die zweite Kiste mit Äpfeln. “Erstmal kommen doch jetzt meine Eltern. Im Januar lese ich in Zürich, und nächste Woche kann ich kein Auto zum TÜV bringen, denn da muss das Kind zum TÜV. Äh, ich meine: zum Arzt, impfen.”
“Wir wollten auch die Nachbarn endlich zum Kaffee einladen”, sagt mein Mann und wirft Äpfel in die vierte Kiste. Wir haben eine Menge Äpfel. “Da ist noch dieser Gutschein fürs Theater … und wir müssen die Äpfel entsaften.”
“Wie wäre es”, frage ich, während wir die Äpfel schälen, “wenn wir im November die Nachbarn zum Äpfel entsaften einladen und meine Eltern mit dem Kind zum Arzt schicken? Im Dezember bringen wir das Auto zum TÜV nach Berlin, und im Januar melden wir Deine Eltern bei einem Tanzkurs im Züricher Theater an.” Die ganze Küche steht voller Apfelkisten. Irgendwo dazwischen muss sich unser Kind befinden; wir haben es vorübergehend verlegt.
Mein Mann macht den Entsafter an. “Besser, wir schicken den Arzt im November mit den Äpfeln ins Berliner Theater”, meint er, “lassen die Nachbarn das Auto zum TÜV nach Zürich bringen und impfen deine Eltern mit Kaffee.”
“Ich glaube, jetzt hast du was durcheinander gebracht”, sage ich. “Sollten wir nicht besser den Arzt im November zum Schwimmkurs anmelden, meine Eltern im Dezember zu den Nachbarn einladen und im Januar das Auto entsaften?”
“Übrigens haben wir noch eine Hochzzeitseinladung nach Ghana”, bemerkt mein Mann und befestigt eine Klemme am Entsafterschlauch. “Auch für Januar. Und  unsere Freunde in Peru warten, dass wir sie endlich besuchen.”
“Ach, das ist praktisch!”, rufe ich. In diesem Moment löst sich die Klemme. Der Apfelsaft läuft aus dem Schlauch in die Küche, tränkt den Teppich, überschwemmt die Dielen, fließt ins Wohnzimmer … „“Wir fahren im November mit dem entsafteten Auto von Zürich nach Ghana, machen dort einen Tanzkurs in einem Cafe und schwimmen gleich weiter nach Peru, wo wir im Dezember mit deinen und meinen Eltern gemeinsam ein Apfeltheater eröffnen.” Inzwischen stehen wir bis zur Hüfte in warmem Saft. Aus dem Wohnzimmer kommt uns das Kind entgegengeschwommen … die durchweichten Seiten des Terminkalenders schwimmen ihm voraus. Wir geben das Planen auf.