Wir sind live!

Die Hotelmieze in Gladbeck mustert uns kritisch und verlangt: “Vorkasse! Bar für beide Nächte!” Offenbar sehen wir aus, als würden wir mit Teilen der Einrichtung verschwinden. Im Gegenteil: Wir schleppen Kinderkorb, Kindermobile, Kinderwickeltasche, Kinderbett-
decke, Kinderwagen, Kinderersatzkleidung – und Kind – durch ein eis-
kaltes Treppenhaus, vorbei an den Türen eines Zahnarztes, eines Psychologen und einer Versicherung gegen beide.
Oben stopfen wir die Sachen in ein Zimmer von den Ausmaßen eines großzügig bemessenen Waschlappens  und wandern zur abendlichen Lesung. Der Eingang der Bücherei wird von mehreren riesigen Fernsehwagen blockiert. “Leider können Sie statt eineinhalb nur eine halbe Stunden lesen”, teilt man mir mit. “Dafür kommen sie ins Fernsehen. Live!”
Mit dem Fernsehen ist es wie mit dem Internet: Man kommt leicht rein, aber nur schwer wieder raus. Ich werde in zwei Verstärkungskabel-
systeme gewickelt, und als ich bewegungsunfähig bin, darf ich lesen. Die Kinder sind viel zu klein für das Buch, aber es hört sowieso keiner zu, weil alle mit ihren Stühlen herumrutschen, damit sie auch ins Fernsehen kommen. Der Kameramann versucht, mich beim Lesen mit dem Kamerawagen zu überfahren, indem er mir mit drei Zentimetern Abstand folgt, während hinter den Kulissen die Kleine schreit. Vermutlich filmt gerade jemand sie. Als ich mitten im vorletzten Satz bin, sagt man mir, nun müsste ich leider aufhören, man wolle mich zu einem kurzen Interview mitnehmen.
“Sie sind gleich live!”, verkündet eine Dame mit wallendem schwarzen Haar und rotem Mund. “Wenn sie sich hier mal gaanz locker hinsetzen…” Ich quetsche mich auf die einzig freie Sofaecke; der Rest ist von Kindern besetzt, die – erraten! – live ins Fernsehen kommen wollen. Hier und da ertönen Schreie, wo andere Kinder über Kabel gestolpert sind und sich Arme oder Beine gebrochen haben.
“So passen die Büchereischränke ja gar nicht…”, sagt ein Fernsehtyp. “Und die Treppe ist eigentlich auch an einer schlechten Stelle … sicher macht es nichts, wenn wir hier mal kurz mit dem Pressluftbohrer …beeilt euch, Jungs, wir sind doch live … hier mal ein Kind zum Kinderschminken hin … das muss natürlich aussehen, ganz natürlich …” “Entschuldigung”, wende ich zaghaft ein. “Sie halten das Kind verkehrt herum!” “Wir haben keine Zeit für Änderungen”, meint er, “wir sind doch live! Schminken wir eben die Füße.” Die Dame mit dem wallenden Haar schubst einige Kinder weg und positioniert sich neben mir auf dem Sofa.
“Frau Michaelis”, sagt sie, “Ist so eine Kinderveranstaltung nicht wunderschön?” “Ich …”, sage ich. “Ja, und so aufregend”, fährt sie fort und wölbt ihren roten Lächelmund ins Bild. “Vor allem, wenn man live ins Fernsehen kommt, nicht wahr. Vielen Dank für das informative Interview.” Da man mich jetzt nicht mehr benötigt, schleift man mich vor die Tür, wo die Kleine mir empört entgegenbrüllt. “Tut mir leid”, sage ich. “Ich konnte nicht früher. Ich war live.”
Am nächsten Morgen wollen wir wenigstens üppig frühstücken. Die Bedienung bringt jedoch einen Zettel, auf dem man ankreuzen muss, was man essen möchte: Ein halbes Brötchen? Einen Teelöffel Marmelade? Ein Viertel Glas Tee? Wir essen verwirrt die Zettel und machen zum Abschluss einen malerischen Spaziergang an der Schnellstraße. Vor ein paar Jahren gab es dort einen Park mit See, aber den hat das letzte Fernsehteam trocken gelegt, weil er das Bild störte.
Naja, früher hieß es: Wenn du nicht brav bist, kommst du barfuß ins Bett! Ich werde zu unserem Kind sagen: Wenn Du nicht brav bist, kommst du nach Gladbeck. Und von da aus live ins Fernsehen.