Große Korbausschüttung

Als ich ein Baby war, lebte ich in einem Bastkorb. Ich weiß nicht, ob meine Eltern mit dem Gedanken spielten, mich auf dem Seeweg an irgendwelche Pharaoinnen zu verschicken. Später wohnten alle meine Stofftiere in dem Korb, und ich veranstaltete einmal im Jahr eine “Große Korbausschüttung”, eine Art Volksfest für die Tiere. Dabei führten einige Tiere unter meinem Bett ein Theaterstück auf. Ich erinnere mich noch, wie der blasslila Jogginganzug eines ziemlich hässlichen Plüschnilpferdes als Verkleidung mitspielen durfte, das Nilpferd selbst aber nicht, weil es sich den Text nicht merken konnte. Stattdessen hopste es während der Vorstellung auf dem Knie meines Vaters herum und schrie die ganze Zeit: “Da ist mein Jogginganzug! Mein Jogginganzug!”, ohne dass mein Vater es  zur Raison rief. Die moderne Erziehung beginnt also in meiner Erinnerung mit dem Jogginganzug eines Nilpferdes.
Schließlich zog das Murmelkind in den Bastkorb, und, als es zu groß wurde, die Murmelspielsachen: Die Stoffmaus Siffy, die überall hin mitging und daher ihren Namen hat (!), eine katzengroße Raupe, bestehend aus gewebten grünen Donuts (!!) und ähnliche Auswüchse moderner Ökotextilindurstrie. Aber das Murmelkind stellte bald fest, dass diese modernen, erzieherischen Designstücke uninteressant waren. Es sammelt inzwischen andere Dinge: “Wenn es krabbeln kann”, meinten unsere Freunde, “müsst ihr das Haus umräumen …” Fehlanzeige. Das Murmelkind räumt das Haus selbst um, auch ohne zu krabbeln. Wenn es irgendwohin will, dreht es sich um 180 Grad, juchzt laut und kriecht rückwärts. Da ich eine moderne Mutter bin, lasse ich ihm seine Fundstücke: Ein Löffel hier, eine halbe Wäscheklammer da … abends wandert alles in den Murmelkorb.
Meinen Schreibtisch ordnet das Murmelkind auch gerne neu. Sie sammelt Schachteln mit Büroklammern (rasseln schön), Briefbeschwerer (lassen sich gut werfen), einen noch-nicht-angeschraubten Kleiderhaken (lässt sich beutzen, um die weiße Farbe von der Wand zu kratzen). Dann beginnt sie, meine Akten umzuräumen und meine Post zu bearbeiten. Als echtes Schriftstellerkind lebt sie von Buchstabenkeksen, und die verteilt sie als breiige braune Schicht auf meinen Briefen. Ab und zu klebt sie einige mit Erdebeermatsch aneinander. Sollten Sie einen solchen Brief bekommen, überbacken Sie ihn einfach kurz im Ofen und servieren Sie ihn mit einer Prise Zimt. Nach getaner Arbeit liest die Murmel gerne Zeitung. Sie bevorzugt Kataloge, aus denen sie die Bestellkarten mit weiblicher Intuition entfernt und sich sofort auf die Suche nach einem Stift zum Aufüllen macht. Vor kurzem fand sie eine Packung Bindhis, diese indischen Punkte für die Stirn, und beklebte sich von Kopf bis Fuß damit. Leider gehen die Punkte nicht mehr ab. Hat das Sams eventuell auch Bindhis gefunden …? Die leere Bindhi-Packung wandert mit den Katalogen, dem Autoschlüssel und dem Locher in den Murmelkorb.
“Hast du mein Stethoskop gesehen?”, fragt mein Mann. “Ach”, sage ich, “das ist im Murmelkorb.  Aber weißt du, wo die Waschmaschine geblieben ist …?”
Unser Haus ist ganz leer geworden. Wir essen jetzt auf dem Fußboden, mit den Händen, denn Stühle und Besteck sind unauffindbar … Demnächst sollten wir wirklich eine große Korbausschüttung machen: Seit letzten Dienstag fehlt das Auto.
Lieber Leser, falls ich irgenwann verschwinden, wissen Sie ja, wo Sie mich zu suchen haben. Ich sehe schon, wie die Oetingerfamlie gemeinsam im Korb wühlt. “Ach, da ist ja Frau Michaelis”, höre ich sie rufen. “Aber warum trägt sie den lila Jogginganzug eines Nilpferdes?”