Im Rabarberschatten der Nouvelle Cuisine

Vorbei sind die Zeiten, in denen man im Restaurant Nudeln mit Tomatensauce bekam. Heute gibt es italienische Edelteigwaren auf einem vorsichtig erwärmten Püree der roten Nachtschattenfrucht. Das heißt dann Nouvelle Cuisine und ist eigentlich erst perfekt, wenn es von Schokoladenkompott und Pfefferminzkümmel begleitet wird.
Selbst zu uns nach Vorpommern ist die Nouvelle Cuisine mit dem Tourismus vorgedrungen,  und so gibt es statt Broiler und Soljanka in Usedoms Seebädern „Federtier am eigenen Knochen“ und „Suppe von Gürkchen mit zarten Rinderstückchen und einer Idee von Essig“.
Die alte Kaschemme in Lassan ist gerade von einem jungen Koch mit gesundem Selbstbewusstsein und großen Ambitionen gekauft worden. Er hätte die Nouvelle Cuisine ganz alleine in München und Berlin eingeführt, sagte er, Lassan wäre eine Kleinigkeit. Na, da werden sich die Maurer, Maler und Arbeitslosen aber freuen, wenn sie ihr Bier ab jetzt an Schnittlauchröschen und ihren Schnaps in ausgehöhlten Kiwis serviert bekommen.
Hier ein Auszug aus der Speisekarte eines historischen Ritterguts, wo wir neulich zu Abend aßen:Wildessenz – Geeiste Gurken-Sauerkleesuppe – Gebratene Jakobsmuscheln mit Wildpfirsich und Zitronengrasschaum – Dorschfilet mit Kopfsalatsauce. Einerseits ist letzteres beruhigender als Kopffilet mit Dorschsalatsauce. Anderseits, gekochter Salat? Darunter finde ich Rehleder, handgemalen, mit Mini-Semmelkloß. Ich frage nach, ob das ein Druckfehler ist und Leber heißen sollte, erfahre jedoch nur, dass das Reh an einer Vinaigrette von Holunderwurzeln gereicht wird. Während wir versuchen, uns zwischen hausgerauchtem (wirklich!) Lammfleisch im Wintermantel und warmem Erdbeerparfait unter Salamisorbet zu entscheiden, reicht man uns ein Amuse geule. Das ist eine französische Art äußerst sparsamer Vorspeise, meist in der Größenordnung einer Ameise.
„Ein Rabarberschatten östlich von halbgebackenem Paranussbrot“, erklärt die Restaurantbesitzerin stolz. Alternativ gibt es dazu Radieschengeflüster – etwas flüssiges, grünes, das bei Kontakt mit Brot Fäden zieht. Schließlich bestelle ich eine Sinfonie von dreierlei Ostseekäse neben einer Himbeermelodie. Mein Mann entschließt sich für ein Deja Vu vom Hochgebirgslachs und zum Nachtisch für eine retrograde Amnesie von der Walderdbeere. Na ja, wir hätten uns auch zu Hause ein Marmeladenbrot schmieren können, da wären wir wenigstens satt geworden …
Übrigens ist man selbst im Supermarkt nicht mehr sicher vor den Raffinessen des 21. Jahrhunderts. Frau Blümlein von Oetinger erzählt mir vom Erwerb einer „Froschtomate“, die aus ihrem Einkaufswagen hüpfte, und ich kaufe zahnpflegendes Katzenfutter. Prima, jetzt brauche ich keine Zahnpasta mehr zu kaufen, ab heute putzen wir uns die Zähne mit Katzenfutter. Der Käse im nächsten Regal ist „in Ruhe gereift“… „Kann ich ihnen helfen?“, fragt die Verkäuferin. „Psst!“, flüstere ich. „Stören sie den Käse nicht! Vielleicht reift er noch!“
„Ach was“, sagt sie. „Der wird doch erst gepflückt, wenn er reif ist.“
Kurz vor der Kasse finde ich Toilettenpapier in den Geschmacksrichtungen „Kräuter Diät“ und „Wellness“. Immerhin, besser als das Recycling-Toilettenpapier. Ich bin ja sonst für Recycling, aber bei Toilettenpapier? Alleine der Arbeitsaufwand, das Papier aus der Kanalisation zu fischen und zu trocken … a propos Recycling: bei unserem letzten Besuch auf dem Rittergut ließ ich den Traum vom Malediven-Erdapfel, der sich hinter – oder war es über? – meiner Melancholie von Krabbenfüßen befand, zurückgehen. Und gerade gestern, als wir wieder dort waren, las ich auf der Karte ein neues Gericht: Quartett von der wiederverwendeten Inselkartoffel mit einer Erinnerung an Meeresgetier.