Weihnachtsgeschichte

Es war ein Samstag im Advent, als ich meinen Bruder zum ersten Mal sah. Ich war zehn, er vierundzwanzig. Er war Papas Sohn, aus den „wilden Jahren“, früher, als Papa eine andere Freundin gehabt hatte. Mein Bruder hieß Pit und war kein Umgang für mich. Sagte Mama. Er reiste durch die Welt und wechselte die Freundinnen wie die Unterwäsche, und vielleicht lebte er vom Drogenschmuggel. Sagte Mama. Und dann stand  an jenem Samstag plötzlich vor unserer Tür in Berlin. Er trug einen grauen Wollpullover, und seine Haare waren schwarz gefärbt. Wirklich gefährlich sah er nicht aus. Er lächelte.
„Hallo Leo“, sagte er. „Ich hab dir noch nie was zu Weihnachten geschenkt. Und nun bin ich zufällig hier in Berlin, da dachte ich, ich schenk dir was.“
„Ist doch noch gar nicht Weihnachten“, sagte ich. „Heute.“
„Für uns schon“, sagte Pit. „Und ich schenke dir diesen Tag. Wenn du willst.“
Hinter Pit stand ein Mädchen mit Haaren in allen Regenbogenfarben und einer gelben Strumpfhose. Man sah die Strumpfhose sehr gut, weil das Mädchen fast keinen Rock anhatte. „Melosine Kraweel“, sagte sie und knickste.
Mama und Papa waren nicht so dafür, dass ich den Tag mit Pit und “so einer” verbrachte. Sie war bestimmt auch kein Umgang für mich. Schließlich gab Papa aber nach und seufzte und drückte Pit einen Schein in die Hand. Er murmelte etwas über Mittagessen, und Mama murmelte, dass Melosine gar kein Name wäre. Dann war ich alleine mit Pit und Melosine.
„Was willst du machen?“, fragte Pit. „Es ist dein Tag. Du entscheidest.“
Ich entschied mich für den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz. Den mochte Mama nicht, weil er so unweihnachtlich laut war. Es gab Autoscooter dort.
In der U-Bahn guckte ich die ganze Zeit Melosine an. Sie hatte einen sehr schönen Busen unter ihrer engen Joggingjacke.
Beim Autoscooter teilte ich mit Pit ein Auto. Wir rammten Melosines Auto dreimal, und sie lachte. “Sag mal”, begann ich. „Wie … wie oft wechselst du so die Freundin?“
„Oh, so drei, vier mal … am Tag“, meinte Pit. Das war natürlich Unsinn.
„Nach dem Autoscootern machen wir eine Wette”, sagte ich. “Wer am meisten gebrannte Mandeln in den Mund stecken kann.“
Neben dem Mandel-Stand saß ein Bettler mit einem Pappbecher in den rotgefrorenen Händen. Pit nahm den Schein von Papa aus der Tasche. Es waren 50 Euro. „Nett gemeint“, sagte Pit. „Aber unnötig.“ Damit steckte er den Schein in den Becher des Bettlers und bezahlte die gebrannten Mandeln mit kleinen Münzen.
„Man soll denen kein Geld geben!“, flüsterte ich. „Sagt Mama. Die kaufen bloß Schnaps!“
„Was sollen wir ihm denn zu Weihnachten schenken?“, fragte Melosine sanft. „Eine Bibel?“
Und sie stopfte so viele Mandeln in ihren Mund, dass sie nicht nur aussah wie ein Hamster sondern wie zwei Hamster. Ich lachte, und dann stopfte ich meinen Mund auch mit Mandeln voll. Es war unmöglich zu sagen, wer die Wette gewonnen hatte.
„Schade, dass es nicht schneit“, sagte ich.
„Wir könnten nachhelfen“, sagte Pit. Melosine und ich folgten ihm ins Kaufhaus am Alex, wo es warm und stickig war. Melosine machte den Reißverschluss ihrer Jacke auf, und man sah ihren hübschen Busen in dem T-Shirt noch besser. Im obersten Stockwerk gingen wir in ein Kleidergeschäft und Pit öffnete ganz hinten ein Fenster. Dann zerriss er die Mandeltüte in kleine Stückchen und ließ sie aus dem Fenster rieseln. Hier und da bekam jemand eine Papierflocke auf die Nase und wunderte sich.
„Prima“, sagte Melosine und küsste Pit, mitten zwischen den Unterhosen im Kaufhaus. „Aber jetzt will ich richtigen Schnee. In einem Park, ganz romantisch.“
Und deshalb fuhren wir mit der S-Bahn zum Volkspark Friedrichshain. Melosine lief auf eine verlassene Wiese hinaus, hob die Arme, sah zum Himmel – und es begann, wirklich, zu schneien. Nur ein bisschen, aber immerhin.
„Melosine“, wisperte Pit hinter mir, „kann nämlich zaubern.“
Wir wanderten durch den Park, zwischen den Flocken, wir zu dritt, und es war wunderbar. „So“, sagte Melosine, „und jetzt lasst mich allein. Denn jetzt weine ich.“ Sie lächelte mich an. „Ich weine jeden Tag zehn Minuten lang. Um alles. Um die Bettler. Und die Kriege. Und die Kinder, die sterben müssen.“ Damit drehte sie sich um und ging zu einer  Parkbank, um zu weinen.
„Und … wir?“, fragte ich verwirrt.
„Wir warten, bis sie mit dem Weinen fertig ist“, sagte Pit. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte eine Weile schweigend, und ich fragte mich, ob irgendwie Drogen in der Zigarette waren, weil Mama das gesagt hatte. Aber es fühlte sich gut an, mit Pit zusammen zu schweigen. „Melosine stirbt nämlich“, sagte er plötzlich.
„Waas?“, fragte ich entsetzt. „Wie? Wann? Bald? Woran denn?“
Pit trat die Zigarette aus. „Die Ärzte finden nichts. Aber sie weiß, dass sie stirbt.“
„Ach“, sagte ich, und mir war ganz seltsam. Vielleicht, dachte ich, war Melosine nur ein bisschen verrückt und würde nicht wirklich sterben. Hoffentlich. Nach zehn Minuten stand sie auf und wischte sich die Augen trocken. „Zeit“, sagte sie, „für einen Schneemann.“
„Dazu reicht der Schnee nie im Leben“, meinte ich.
„Wirst schon sehen“, sagte Pit. Er ging zu einem Mülleimer und begann, Dinge herauszunehmen: Tüten, Flaschen, Papier … Dann holte er eine Rolle Klebeband aus der Tasche. Und dann – dann bauten wir einen Schneemann aus Müll. Als Nase benützten wir eine abgebrochene Flasche. Und ich dachte, dass es sicher verboten war, die Mülleimer auszuleeren. Aber dann vergaß ich es gleich wieder, denn dann geschah ein Wunder: Der Schnee blieb als dünne Schicht auf dem Müll liegen und verzauberte unseren Müllmann in einen richtigen Schneemann. „Schön“, seufzte Melosine.
„Aber es wird spät“, meinte Pit. „Wir müssen Leo zurückbringen. Und etwas essen.“
Da nahm Melosine mich an der einen Hand und Pit an der anderen und wir rannten los, durch den Schnee, zurück zur S-Bahn-Station. Beim Umsteigen kauften wir Currywurst, und als wir uns in die zweite S-Bahn quetschten, küsste Melosine mich auf die Backe.
„Frohe Weihnachten, Leo“, flüsterte sie.
„Mann!“, sagte ich. „Mir ist auf einmal so weihnachtlich, dass ich fast singen könnte!“
Pit und Melosine sahen sich an. Und begannen, zu singen. Mitten in der überfüllten S-Bahn. Ganz laut. Stille Nacht, sangen sie, heilige Nacht … obwohl es in der S-Bahn gar nicht still und heilig war und auch nicht Nacht, sondern grell beleuchtet. Melosine hatte eine wunderschöne Stimme, hoch und klar wie ein Winterhimmel, und Pit sang tief wie der Schnee unter dem Winterhimmel. Ich holte Luft und sang mit. Alle Leute guckten, doch das war mir egal. „Denkt bloß nich, ihr kriecht Jeld für det Jesinge“, sagte jemand. Aber ein kleines Mädchen ganz hinten in der Bahn, das lächelte uns an.
Als wir wieder vor unserer Haustür standen, war es dunkel geworden. Die Schneeflocken waren verschwunden. Der Himmel hing voller Sterne.
„Na dann“, sagte Pit. Melosine umarmte mich. Sie roch nach Sonnenschein. „Sag ihnen, dass ich kein Geld brauche, ja?“, bat Pit. Dann verschluckte der Abend ihn und Melosine.

Im Bett erzählte ich Mama und Papa, dass wir den Schnee gerufen hatten. Und einen Schneemann gebaut, aus Müll. „Papas Geld haben wir einem Bettler geschenkt“, fuhr ich fort. „Und – Mama? Du solltest was engeres anziehen. Du hast so einen schönen Busen, aber man sieht ihn nie.“
„Siehst du?“, sagte Mama zu Papa. Sie klang sauer, obwohl ich ihr doch etwas nettes gesagt hatte. „Pit ist kein Umgang für Leo.“

Kurz nach Weihnachten kam ein Brief für mich. Von Pit. Mama wollte am liebsten, dass ich ihn gar nicht las, weil Pit doch kein Umgang für mich war.
Lieber Leo, stand in dem Brief. Melosine ist tot. Es war ein Verkehrsunfall, zwei Tage vor Weihnachten. Ich glaube, sie war glücklich, dass sie vorher noch mit uns einen Schneemann gebaut hat und gesungen. Sie ist unter einem anderen Namen begraben worden. Melosine Kraweel hieß sie nur an diesem Weihnachtstag. Ich bin nicht mehr in Berlin. Bis irgendwann, Dein Pit.
„So“, sagte ich zu Mama und Papa. „Jetzt müsst ihr mich in Ruhe lassen, denn jetzt weine ich. Um die Bettler und die Kinder, die sterben müssen. Und um Melosine.“
„Wer ist Melosine?“, fragte Papa.
Ich setzte mich an mein Fenster, vor dem es nicht schneite, und dachte an Melosines gelbe Strumpfhosen und an Pit. Irgendwann würde er wieder anrufen. Und dann würden wir merkwürdige Dinge tun wie Müllmänner bauen und Bettlern Geld für Schnaps schenken. Im Wohnzimmer hörte ich Mama und Papa über das Fernsehprogramm reden. Manchmal denke ich, ich bin kein Umgang für Mama und Papa.