Berichterstattung aus dem Krisengebiet OVP

Es wird ja immer mehr zum Trend, bei uns im Vorpommern Urlaub zu machen, Rügen und Usedom verwandeln sich in Mallorca. Dass nun aber sogar die Tiefdruckgebiete zu uns kommen, hat mich doch erstaunt. Unser neuester Gast heißt Daisy. Sie hat wohl in einem Prospekt etwas über lange weiße Strände gelesen, und seitdem sie bei uns weilt, sind die Strände wirklich weiß: Daisy hat Schnee im Gepäck.
Ich meine, dass der Klimagipfel schief gelaufen ist, habe ich ja gehört – aber soo schief? Die Pole schmelzen ab, na von mir aus, und der Schnee dort verschwindet, na von mir aus, aber muss er ausgerechnet zu uns kommen?
Nun gut, wenn Daisy kommt, gehen wir. Tatsächlich muss ich praktischer Weise verreisen, Goethe hat mich angestellt, oder jedenfalls Goethe in seiner instituionalisierten Form: Zuerst soll ich in der Türkei und anschließend in Sri Lanka lesen, denn der globalisierte Goethe weilt nicht mehr nur in der Toskana. In Sri Lanka lese ich ein Buch, das in Indien spielt, auf Englisch, und in der Türkei lese ich voraussichtlich fünf Minuten auf deutsch, was die türkischen Schüler nicht verstehen, danach liest ein Übersetzer eine längere Version meines Textes auf türkisch, was ich nicht verstehe, und am Ende wird mit den Schülern diskutiert – vielleicht auf chinesisch? Vor der Lesung wollten mein Mann und ich ein paar Abenteuer in Sri Lanka erleben, aber da hätten wir nicht so einen teuren Flug buchen müssen. Abenteuer gibt es auch zu Hause, dort ist ja jetzt Daisy.
Während wir für Sri Lanka packen, spuckt das Radio Katastrophennachrichten aus. Alle Leute in Ostvorpommern sollen sich mit Kerzen und Konservendosen eindecken, die Fenster verriegeln und die Wachhunde festbinden, damit sie nicht wegfliegen … draußen wirft der Sturm Schnee gegen die Fenster, wo er kleben bleibt, bis man nicht mehr hinaussehen kann. Wir wohnen jetzt in einem Iglu. Als wir am Morgen unserer Reise ins Auto steigen wollen, ist die Straße weg. Das Auto übrigens auch. Vor unserem Haus liegt ein freies Feld, und sämtlicher Schnee ist nachts von diesem Feld zu uns geweht worden – in hübschen gewellten Schneewehen, ungefähr schulterhoch, liegt er direkt an unserem Zaun. Schade, dass es keine Schneeschuhe für Autos gibt. Ich gehe tapfer mit meiner Kerze und meiner Konservendose hinaus und versuche, damit den Schnee zu beseitigen, aber wie war das eigentlich gemeint? Soll man den Schnee mit der Kerze schmelzen? Oder damit in die Konservenbüchse schaufeln? Mein Mann telefoniert mit dem Katastrophenschutz. Wir sollten nur die Bundesstraßen benutzen, sagt die nette Dame dort. Ja, aber da müssen wir ja erst mal hinkommen!, ruft mein Mann. Wird denn hier bei uns nicht geräumt? Doch, sagt die nette Dame, es gibt eine Schneefräse. Aber die steckt ein Dorf weiter im Schnee fest. Was ist eigentlich eine Schneefräse?, frage ich. Ach, so ein Ding, dass den Schnee in sich hinein frisst und zu den Seiten wegpustet, sagt mein Mann. Aha. Es war gar nicht Daisy. Ganz hinten auf dem Feld steht eine riesige Schneefräse, die Amok läuft und uns mit Schnee bespritzt …
Wir sitzen auf gepackten Koffern und warten. Das Licht flackert, der Strom geht an und aus. Kein Räumdienst kommt vorbei. Vielleicht sollten wir das Auto über die Schneewehen tragen? Wir packen die Koffer neu. Wir haben eigentlich nichts mehr zu essen im Haus, wir wollten ja für drei Wochen verreisen. Wir lutschen etwas Schnee und warten weiter. Es ist ein bisschen wie auf der Flucht.
Schließlich kommt ein heldenhafter Bauer mit seinem Traktor vorbei und schiebt tatsächlich eine Art Rinne in die Schneewehen auf der Straße. „Jetzt!“, schreie ich. „Wir müssen schnell los, ehe alles wieder zu weht!“ Leider hat der Traktor die Schneemassen auf unser Auto geschoben. Fluchend schaufeln wir es frei, das Murmelkind schreit, es denkt, dass die Welt untergeht, und vielleicht hat es recht. „Wir kommen nie mehr nach Berlin…“, keuche ich, „wir nie mehr hier raus …“
Schließlich sind wir aber doch auf der Straße nach Anklam, einer spiegelglatten Straße. Wir fahren Seitenstrecken, wir fahren Umwege, die vielleicht geräumt sind, wieder kommen einem diese Gedanken an 45: Da drüben können wir nicht mehr lang, da haben sie die Brücke schon gesprengt … in unserem Fall ist die Brücke natürlich nur verschneit, und solche Vergleiche sind ganz geschmacklos. Aber sie passen so gut. Vor dem Bahnhof in Anklam sitzen zitternde Flüchtlinge auf ihren Koffern. Die Usedomer Bäderbahn ist nachts entgleist, dies scheinen die Überlebenden zu sein. Es fahren keine Züge nach Berlin. Man hat vage Informationen, dass ab Prenzlau Züge fahren. Wir haben im Auto Platz für zwei Flüchtlinge, die seit dem vorigen Abend unterwegs sind, nehmen sie auf und stopfen ihr Gepäck zu Schneeschippe und Schaufel ins Auto. An der Tanke machen wir einen Großeinkauf mit Überlebensmitteln, wir werden sie rationieren, bis Prenzlau ist es weit. Wir fahren Schrittgeschwindigkeit. Eine Kette von anderen Flüchtlingsfahrzeugen fährt mit uns nach Prenzlau. Werden wir es schaffen, rechtzeitig rauszukommen, ehe der Russe … ich meine: Daisy … uns ganz eingekesselt hat? Am Straßenrand steckt ein anderes Auto fest. Die Wagen vor uns fahren vorbei, kaltherzig nur aufs eigene Überleben bedacht, hier anzuhalten kann tödlich sein, wer sich nicht mehr bewegt, steckt schnell im Schnee fest, oder vielleicht frieren die Reifen auch einfach am Boden an … wir jagen unsere Flüchtlinge aus dem Auto und schieben alle gemeinsam das andere Fahrzeug an. Blöd, dass hier so selten Schneefräsen vorbeikommen!, rufe ich dem Fahrer gegen den Sturm zu. Es kommen doch welche vorbei!, ruft er zurück. Was glauben sie, wer mein Auto in die Schneewehe geschoben hat? Wir schaufeln den Wagen frei, wir keuchen und schwitzen, wir legen Mützen unter die Reifen (wirklich), um dem Wagen Halt zu geben, und schließlich haben wir es geschafft und stürzen jubelnd zurück ins eigene Auto. Zum Glück ist es inzwischen nur geringfügig eingeschneit und steckt auch nur ein bisschen fest.
Auf der Strecke nach Prenzlau telefoniert eines unserer Flüchtlingsmädchen die ganze Zeit mit seinem Vater, der vor dem Computer sitzt und uns mit Informationen versorgt: Ganze Dörfer in Vorpommern sind von der Umgebung abgeschnitten, die Deiche brechen, auch in Prenzlau fahren keine Züge mehr. An der Strecke liegen erste Tote … ach nein, es sind nur abgebrochene Äste. Die Schneewehen, die sich an den Leitplanken auftürmen, sind meterhoch.
Und dann die erlösende Nachricht: Es gibt wieder Züge ab Prenzlau! Am Bahnhof kauert eine Ansammlung dunkler Gestalten, andere Flüchtlinge aus ganz Vorpommern haben sich dort gesammelt. Wir sprechen uns gegenseitig Mut zu. Der Zug wird kommen.
Und er kommt. Schlingernd bewegt er sich über die Geleise, in seinem überfüllten Inneren kauern die Menschen mit nassen Füßen und stumpfen Augen, sie haben das Grauen gesehen … in Berlin setze ich meinen Mann und das Murmelkind in einen Zug nach Köln, unsere Wege trennen sich vorübergehend, wir werden uns erst in Sri Lanka wiedersehen. Aber werden wir uns wiedersehen? Auch hier sind die Bahnsteige überfüllt, von dem versprochenen Zug fährt nur die Hälfte, die andere Hälfte ist vielleicht irgendwo festgefroren. Beim Einsteigen der Massen gibt es herzzerreißende Szenen, erste Opfer werden vermutlich tot getrampelt. Ich vermeide einen tränenreichen Abschied und steige in ein Berliner Taxi, denn ich habe in der Stadt noch zu tun.
Der Taxifahrer mustert meine zerrissene, schneebedeckte Kleidung, mein sturmzerzaustes Haar und meinen verzweifelten Blick und sagt: „Ich habe gehört, in Ostvorpommern schneit es ein bisschen?“