Unter Unbekannten

Bei einer Lesereise begegnen einem jeden Tag fünf bis fünfzehn Menschen, die einem alle ihre Lebensgeschichte erzählen und alle ein Gesicht haben. Beides vergesse ich sofort wieder, ich nehme an, es handelt sich um eine Schutzmaßnahme meines Gehirns, das sonst wegen Überfüllung geschlossen werden müsste. Um mir die Leute wenigstens kurzzeitig zu merken, präge ich mir die Farbe ihres Schlipses ein, oder den Haarschnitt ihres Hundes. Gemein ist, wenn der Hund zum Friseur geht oder die Leute sich umziehen. Einmal begrüßte ich einen Schuldirektor, der im Wollpullover vor einer Klasse stand und sang. Eine Stunde später saß der gleichen Direktor, der in Schlips und Kragen im Büro. „Schön“, sagte ich, „Sie kennen zu lernen …“

Auch die Gesichter von Städten sind eine tückische Sache. Wenn man mich fragt, ob ich „zum ersten Mal hier wäre“, murmle ich lieber nur unverständliches. Sabine Ludwig hat erzählt, sie wäre kürzlich durch eine Stadt gelaufen, an die sie absolut keine Erinnerung hatte, obwohl die Bibliothekarin (an die sie auch keine Erinnerung hatte) behauptete, sie wäre erst vor drei Monaten da gewesen.

Noch schlimmer ist es, wenn man von Anfang an nicht weiß, wer die Leute sind. In einer Autorenrunde sprechen sich alle mit Vornamen an, und dann tut man stundenlang so, als wüsste man, wer die anderen wären. „Liebste Antonia, das ist der Hans.“ Ja, welcher denn? Magnus Enzensberger? Wie das wohl damals war, als sich Johann Wolfgang und Friedrich vorgestellt wurden und keine Ahnung hatten, was der andere tat?
Letztes Jahr in Leipzig fragte ich beim Frühstück im Hotel einen jungen Mann: „Und was machen Sie so bei Oetinger?“
„Ach“, sagte er, „mehr so die Verwaltung … ich bin kein Autor …“
Tja, das war Till Weitendorf. Er hätte auch sagen können: Ich bin Oetinger …
Dieses Jahr richtet mir auf der Messe in Leipzig eine strahlende junge Frau „Grüße aus der Heimat“ aus. Himmel, welche Heimat meint sie? Kommt sie aus meiner Geburtsstadt Kiel? Aus Augsburg, wo ich zur Schule gegangen bin? Aus Indien, wo ich gearbeitet habe?
„Ich bin die Bibliothekarin aus Greifswald!“, sagt sie, „wir machen doch dauernd Veranstaltungen zusammen!“ „Sie haben ihre Haare geschnitten“, sage ich vorwurfsvoll.
Am Abend trifft sich eine Verlagsrunde im Restaurant Coffebaum, dessen Vorstellung von experimenteller Küche ich schon anderswo beschrieben habe. Ich komme gerade von der Lit Cologne (wo ich eine Dame begrüßte, die mich gut kennt, an die ich mich aber nicht erinnere) – komme jedenfalls zu spät und bewege mich vorsichtig suchend durch das Restaurant. Welche der Gruppen ist der Oetinger Verlag? Frau Blümlein von der Presse muss dort sitzen …Ach, vielleicht sollte ich einfach unauffällig wieder gehen. Aber der Herr mit den grauen Locken da drüben, der guckt mich so an. Ich gehe im Geiste ältere Herren mit Locken durch, die mir bisher begegnet sind: Der Paket-Briefträger … drei verschwippschwagerte Großonkel mütterlicherseits … der Klempner … nein! Ich kenne den Herrn von der Oetinger-Homepage! Es ist nicht der Klempner. Es ist Paul Maar.
Also muss das dort der Oetinger-Tisch sein … Na toll. Frau Blümlein hat ihre Haarfarbe geändert. Am nächsten Morgen im Hotel begrüßt mich ein Mensch, der entfernt an Kempowski in jüngeren Jahren erinnert, aber als ich den zuletzt besucht habe, war ich zehn, und ist er nicht seither gestorben?
„Ich bin der Oetinger Marketingleiter“, sagt der Mensch. So sollten sich alle Leute vorstellen! Besser noch, sie sollten große Schilder um den Hals tragen, mit Namen und Funktion. Auf mein Schild schreibe ich: MICHAELIS, VOLLIDIOT. Außer mir scheinen immer alle Leute zu wissen, wer alle Leute sind.
Das Frühstück verbringe ich mit Grit Poppe, die schreibt auch für Oetinger, das weiß ich vom Vorabend (und sie hat ihre Frisur nachts nicht gewechselt, ein Glück) sowie besagtem Marketingleiter. Nach längerer Unterhaltung sagt sie zu ihm: „Ach, sind Sie auch bei Oetinger?“ „Ja“, sagt er, „aber wer sind Sie denn?“
In Augsburg auf dem Bahnhof winkt mir jemand. „Helfen Sie mir auf die Sprünge“, röchle ich erschöpft. „Stadtbibliothek? Autorin? Buchhandlung?“ „Nein“, sagt sie. „Ich bin deine Mutter.“
Zu Hause sehe ich in den Spiegel. Irgendwo ist mir die Person darin schon begegnet, aber ich kann mich partout nicht erinnern, wo. Ist es die Klempnerin? Die Briefträgerin? Oder kenne ich sie von der Oetinger Homepage?