Kleben und Kleben lassen

Am Ostersonntag sitzt das Murmelkind am Frühstückstisch und hat ganz große Augen.
„Ei, Ei, Ei, Ei!“, sagt es, „Haje Haje!“ Aber woher all diese Eier und Hajen kommen, versteht es nicht.
„Ostern“, doziere ich, „ist ein christliches Fest. Da beten wir alle zum Gott der Schokolade. Der war damals von den Römern eingeschmolzen worden, aber dann ist er auferstanden und aus seiner Höhle gekommen, wozu er erst ein großes Ei vom Eingang weg rollen musste …“
Als ich klein war, habe ich im Kindergarten alles über Jesus-im-Grabe gelernt. Daraufhin bastelte ich lauter kleine Jesusse-im-Grabe aus Papier, schenkte sie meinen Eltern und sagte zufrieden: „Da liecht er im Graben.“
Seit meiner Kindheit faste ich im Übrigen traditionell vor Ostern, und zwar Zigaretten, Fleisch und Fernsehen. Nun ja, ich bin vegetarischer Nichtraucher und wir keinen Fernseher … Dieses Jahr habe ich die Selbstkasteiung etwas weiter getrieben: Ich habe Staubsaugen und Abwaschen gefastet. Aber zurück zur Schokolade.
Mein Vater hat die Aufgabe des Eierversteckens immer sehr ernst genommen, die Schokoladenhasen saßen in Lampenschirmen, Bilderrahmen, Unterwäscheschubladen … unsere Putzfrau, Verzeihung: Unsere kreative Rauminnengestaltungsberaterin fand gegen November meist die letzten Eier. In der Studenten-WG haben wir den Brauch fortgeführt: Ich werde nie vergessen, wie mein Mann morgens voller Elan die Treppe unserer winzigen Schlafkammer hinunter – und in ein gefülltes Nougatcreme-Ei sprang.
Jahrelang gab es in der WG auch eine Diskussion bezüglich der Identität des flauschige weißen Dings, welches hinter den Garderobenhaken wuchs. Mehrere Studenten der Landschaftsökologie versuchten, seine Gattung und Art zu bestimmen, konnten sich aber nie einigen, ob es sich um ein Tier oder eine Pflanze handelte. Das beunruhigendste war, dass dass das Ding über die Jahre wuchs und sein Fell länger wurde. Wenn man dagegen drückte, wich es gummiartig zur Seite aus, und ab und zu fraß es einige der vor ihm aufgehängten Jacken. Erst, als ich nach fünf Jahren auszog, erinnerte ich mich: Im ersten Frühjahr hatte ich ein Gelee-Ei hinter der Garderobe versteckt …
Nun sind wir ja spießig und alt geworden und feiern Ostern auf dem Lande mit Kind.
Besagtes Murmelkind verliebt sich bereits eine Woche vor dem Fest in einen Teig-Hasen. Offenbar vertritt es die Ansicht, dass man von Hasen nur die Augen essen kann – den blinden Hasen wiegt es dann stundenlang im Arm, bis er in seine Bäckertüte zurückkehren darf. Von nun an trägt die Murmel ihn jeden Morgen eine Stunde lang im Haus herum. Macht euch nichts draus, sagt meine Mutter am Telefon, bis nächste Ostern ist er murmlifiziert.
An Ostern verstecke ich dann die Schokoladeneier extra so, daß auch das Murmelkind welche findet. Das, das ich ins Griffloch des Lautsprechers gesteckt habe, bekommt man leider nicht wieder heraus … Die übrigen Eier findet das Murmelkind – und versteckt sie gleich woanders.
Eines fand ich gestern hinter dem Wäschekorb im Bad, wo eine handtellergroße Spinne gerade versuchte, es aus ihrem Netz zu entfernen. Eins war heute morgen in unserem Bett. Und als ich die Weißwäsche vorhin aus der Maschine nahm, da hatte sie einen bräunlichen Grundton angenommen … Noch besser sind die selbstgebackenen Eierkekse mit dem bunten Zuckerguss; die liegen fast so gut in der Hand wie Stifte: Rot, grün, blau, gelb – sind jetzt unsere Wände.
Natürlich isst das Murmelkind auch Schokoladeneier. Mit Ganzkörpereinsatz, nicht nur im Gesicht.
Als ich die Murmel zum ersten Mal in den Kindergarten bringe, nickt die Kindergärtnerin freundlich. „Wir finden das ja sehr sozial, wenn Leute Kinder adoptieren“, sagt sie. „Aber wieso haben sie der Kleinen die Haare blond gefärbt?“
„Gefärbt?“, frage ich. „Adoptieren?“
„Na ja“, sagt sie, „Afrikaner haben doch normaler Weise keine blonden Haare …“
Zum Abschied umarmt mich die Murmel. Eine dünne Schicht schmieriger Schokolade überzieht auch mich seitdem von Kopf bis Fuß.
Wenn Sie mich in nächster Zeit anrufen – ich bin nicht zu Hause. Ich habe mich in Silberpapier gewickelt und mich in ein Supermarktregal gelegt. Das nächste Ostern kommt bestimmt.