Die Neuerfindung der Sprache

Früher war das Lieblingswort der Murmel „Sauerkraut“. Sie konnte es noch nicht selbst sagen, aber wenn wir es sagten, lachte sie sich jedes mal tot.
Es heißt ja, mit zwei Jahren würden Kinder jeden Tag 3 – 5 Worte lernen. Nicht so die Murmel. Sie gestaltet jeden Tag 3 – 5 Worte neu.
An der Allee steht ein Maum, und o eina, noch eina, und an jedem Maum ist ein grünes Blabb. Gerne ist die Murmel Leisch, und vorhin habe ich das Liederbuch bleb, will sagen geklebt. „Homm, homm!“ bedeutet komm, und wenn sie findet, man könnte jetzt wieder gehen und sie gefälligst in Ruhe lassen, sagt sie resolut „bye bye.“ Mann heißt „Mamm“. Aber Frau heißt auch „Mamm“. Gezählt wird „eina, beibe, alle.“
Neulich an der Supermarktkasse sang sie die ganze Zeit „Omi, omi, omi“, woraufhin die nicht mehr ganz junge Frau vor uns beleidigt guckte. Sie konnte ja nicht wissen, dass Omi Gummi bedeutet und die Murmel sich auf ihre Omi-Bärchen freute. Sie besitzt auch Omistiefel.
„Tiger“ kann sie nicht aussprechen. Daher heißen alle gestreiften Tiere jetzt Dieter. Wenn Franz Mark wüsste, dass er „Dieter“ gemalt hat!
Kuschelkissen heißt „hmmm“, schlafen heißt „laa“, Lolli heißt „Lila“ … und Wasser heißt „nee“.
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Am meisten liebt sie das Wort bllllau, was nicht etwa blau bedeutet, sondern schön. Der Grad der Begeisterung ist an der Anzahl der „l“ zu hören. Hässlich heißt „näh“.
Auch um Geschichten zu erzählen, muss man nicht viele Worte machen:
„Eia Baab laa“ zum Beispiel. „Die Eier schlafen im Bad.“ Wir hatten uns geeinigt, dass die Eier im Kühlschrank schlafen, damit die Murmel sie nicht im Rohzustand herausnimmt und wirft. Aber im Bad? Hat die Murmel ein Ei im Wäschekorb versteckt?
Der gelbe Plastikfisch ist hingegen aus dem Bad verschwunden. Von einem Ei gefressen? Nein: „Blubblub nini Auto“. Translates into: Der Fisch ist mit der Großmutter der Murmel im Auto weggefahren. Wenn man bedenkt, dass „Nini“ tausend Kilometer weit weg wohnt, ist das erstaunlich. Hat Nini den Fisch abgeholt? Warum hat sie mir dann nicht wenigstens Guten Tag gesagt? Und was will sie mit dem Ding?
Aufwachsend in Zeiten der Wirtschaftskrise, ist die Murmel sehr sparsam. So hat sie das Multifunktions-Wort entwickelt:
Toto bedeutet je nach Aussprache Elefant oder Auto. Bobo kann Hund oder Po heißen, Bobob hingegen Frosch. Somit heißt Hunde-Popo Bobobobo, Froschhintern Bobobbobo. Eia bedeutet nicht nur Eier, sondern auch Hase (beides hat sie an Ostern gelernt), Ma kann malen oder nochmal heißen … Ma Ma demnach „nochmal malen“, „Mama ma ma!“ „Mama soll nochmal malen.“
Wohingegen „Totó tóto tot.“ übersetzbar wäre mit „Der Elefant wurde vom Auto überfahren.“
Gestern hatten wir uns unterhalten und damit aufgehört, worauf hin die Murmel auf uns zeigte und sehr bestimmt verlangte: „Blablablablablabla.“ Wir sollten weiterreden, das war so schön als Hintergrundmusik, während sie ihre großen Zehen mit Zahnpasta verzierte. Übrigens füttert sie auch Schnittblumen mit Weißbrot und Marienkäfer mit Kieselsteinen, aber das gehört hier nicht her, wir waren ja bei der Sprache.
Als wir in Augsburg in Toska saßen, entstieg Toska einem Schrankkoffer (Inszenierungen in Augsburg sind … anders). Nachdem ihr Liebhaber sie aus mehreren Ikea-Teppichen ausgewickelt hatte, trug Toska darunter etwas blaues, aber sehr hässliches.
„Bllllau!“, rief meine Mutter begeistert. „Nääh“, sagte ich abfällig. Woraufhin wir beibe wegen eines Lachanfalls beinahe der Oper bye bye sagen mussten.
Mein Mann und ich sprechen bisweilen nur murmlisch. Wenn wir abends von der Theatergruppe nach Hause gehen möchten, würden wir eigentlich dies sagen:
Er: Ich muss ins Bett, schlafen.
Ich: Oh, ja, das wäre schön! Ab in die Kissen!
Er: Wollen wir zum Auto gehen? Aber wo kriege ich um diese Uhrzeit noch was zu essen?
Ich: Du könntest ein Döner mitnehmen.
Er: Dann lass uns gehen.
Was wir tatsächlich sagen, klingt folgendermaßen:
Er: Laaa!
Ich: Blau! Hmm!
Er: Toto? Nam nam?
Ich: Leisch?
Er: Homm.
Gerade sitzt die Murmel neben mir und singt: „Heute, heute, heute.“ Ich weiß nicht, was es heißt. Es könnte „heute“ heißen. Es könnte aber auch alles andere heißen, von Fischfrikadelle bis Naherholungsgebiet.