Der Märchenertrailer

Bisher dachte ich, ein Trailer wäre ein T-förmiges Aluminiumutensil, um Boote zu transportieren. Nein. Ich lerne: Es ist ein internet-förmiges Werbeutensil, um den Wunsch zu transportieren, ein bestimmtes Buch zu kaufen.
Wenn alle etwas tun, muss man es auch tun, das ist das Gesetz der freien Markwirtschaft, und so beschließen wir, einen Trailer zum „Märchenerzähler“ zu machen, der im Januar bei Oetinger erscheint. Oetinger hat auch ein Budget dafür eingeplant. Es reicht knapp für das Honorar des Regisseurs. Seufzend verkaufe ich ein paar alte Pelzmäntel und Goldbarren und mache mich daran, eine Art Drehbuch zu schreiben.
Natürlich gibt es im Märchenerzähler ein Märchen, und daher brauchen wir eine Märchenszene, und es gibt ein Schiff und eine zugefrorene Ostsee und Schnee und Blut … und irgendwo ist all dies zwar vorhanden, aber nicht an der richtigen Stelle, nämlich im Studio.
Na, dafür hat man ja den Greenscreen, sagt Harald, der Regisseur. Das ist eine grüne Wand, die war früher blau, aber jetzt ist sie grün, und später weg. Aha.
Ich sammle meine Schauspieler ein, zwei Jugendliche und ein kleines Mädchen von sechs Jahren, und begebe mich zum Studio am Kottbusserdamm. Der Taxifahrer hält vor einem bombastischen Hotel mit blinkender, glitzernder, strahlender Weihnachtsbeleuchtung. Ich sehe schon gepolsterte Umkleidekabinen vor mir, sanft säuselnde Schminkspezialisten … der Regisseur wird wahrscheinlich im Abendkleid erscheinen.
„Wollten Sie nicht zum Kuhdamm?“, fragt der Taxifahrer. Nein. Wir wollten zum Kottbusserdamm, falsche Straße, richtige Hausnummer. Am Kottubsserdamm gehen wir durch einen vereisten Hinterhof und folgen einem handgemalten Schild drei graue Treppenfluchten hinauf ins Studio.
Tatsächlich ist die eine Hälfte davon grün gestrichen. Hinten gibt es, erklärt man uns, die Hohlkehle, dort hebt sich der Boden ein wenig und geht in die Wand über, damit man die Kante nicht sieht. Man darf den Boden dort nicht betreten, was sich da anhebt, ist nämlich nur eine dünne grüne Membran … Und dann wird alles 115 Mal ausgemessen, es muss genau berechnet werden wo jeder Schauspieler wann steht, davon der Sinus und der Cosinus genommen und durch die Schuhgröße der Regieassistentin geteilt … „Weiter nach hinten!“, ruft Harald dem Hauptdarsteller zu. „Noch weiter … haaalt!“
Zu spät, Paul ist mit einem Fuß in die Hohlkehle eingebrochen.
Na, nehmen wir bis zur Reparatur erstmal das Blut auf. Das soll auf einen Badezimmerfußboden tropfen und dann weggewischt werden, was ich mir ganz einfach vorstellte. Ist es aber nicht: Es dürfen keine Füße, Arme, Nasen und Schatten auf dem Bild sein … der Kameramann lehnt sich an die Tür, steckt den linken Arm unter dem rechten Bein durch und filmt, während der Tropfen-Wegwischer auf dem rechten Daumen balanciert, die Füße in der Luft, und mit der linken Hand wischt. Die Kamera wiegt 45 Kilo. „Ruhig halten!“, ruft Harald, „ganz entspannt … und jetzt den Schwenk zum Fenster ….“ Der Kameramann macht einen Knoten in seinen Hals und bedient die Knöpfe mit dem linken Ohr. Blut gibt es ein Hustensaftfläschchen voll. Ich sehe zu, wie die Tropfen fallen: Sie haben ungefähr einen Millimeterdurchmesser.
„Harald“, sage ich, „Wir brauchen MEHR BLUT.“
Kurzzeitig erwägen wir, ein Bein des Kameramannes zu amputieren, das sowieso die ganze Zeit im Weg ist, einigen uns dann aber auf beeindruckende zwei Millimeter Tropfendruchmesser. Und schließlich kommen wir zu der Szene mit unserem Schiff. Das Schiff ist ein Modell in Pudelgröße, doch etwas klein für ein sechsjähriges Kind. Wir waschen die kleine Nelly heiß … nein. Das Schiff wird später „reingeschnitten“, Nelly steigt auf einen mit grünem Tuch bedeckten Tisch und klettert über eine Latte, die später die Reling sein wird, um dann aufs „Eis“ hinunterzuspringen. Dazu muss sie eine sehr hässliche rosa Daunenjacke mit Pelzkragen tragen, Mütze, Handschuhe, einen Königsumhang und eine Krone. Die Scheinwerfer verbreiten gemütliche Wärme. Nelly klettert zur Probe, klettert noch einmal, wird ausgemessen, klettert wieder … die Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn. Dann fällt ihnen ein, dass sie vergessen haben, die Latte grün anzustreichen, die darf man ja später nicht sehen. Also wird sie mit schnelltrocknender Farbe bemalt und geföhnt, und dann klettert Nelly wieder, mit Mütze, in der Daunenjacke … „Ganz entspannt!“, ruft Harald. „Und jetzt losrennen …“
Paul und Laura, die Hauptdarsteller, warten Stund um Stund, bis sie endlich an der Reihe sind. Und nun wird es interessant, denn Paul muss Nelly im Kreis schleudern.
„Und nochmal rum! Und in die andere Richtung! Haaalt, so sitzt der Schal falsch!“
Nach ungefähr fünfzig Mal herumschleudern werden alle Abstände, Nasen und Knöpfe neu ausgemessen, und das ganze geht von vorne los. Während der Pausen darf nichts ausgezogen werden, kein Ärmel darf verrutschen … und nochmal aufeinander zu rennen! Und drehen! Schneller! Lächeln!
„Ist euch etwa schwindelig?“, fragt Harald erstaunt.
Schließlich setzt Nelly sich auf den Boden und streikt.
Die letzte Szene folgt, in der Laura beschriebene Blätter in den Wind werfen soll. Welchen Wind? Na, wir nehmen einen Ventilator …doch die Blätter kleben stur in Lauras Hand und wollen sich nicht lösen. Harald rückt den Ventilator näher. Aber den darf man ja nicht sehen … und die Hand, die ihn hält, auch nicht … wir streichen den Ventilator grün an. Wir streichen das Kabel grün an. Wir streichen Harald grün an, das ist viel praktischer. Und schließlich haben wir die Szenen alle im Kasten, oder eher im Computer, nur finden wir den nicht mehr, weil wir ihn grün angestrichen haben.
Etwas später nehme ich in Greifswald die Musik auf, Verzeihung: Den Sound. Wir kennen jemanden mit einem tragbaren Tonstudio, das sich als zernagter Holzblock auf einem Notenständer entpuppt. Das Mikro stellt man zwischen die zernagten Holzteile, dann klingt es später nicht so, als wäre es in einem hallenden Raum aufgenommen. Sondern? Als wäre es in einem kaputten Baum aufgenommen? Ich überlege, ob man das Holz nicht grün streichen sollte … Das halbe Repertoire der Musiker dürfen wir nicht benützen, stellen wir fest, weil wir dafür erst einen Antrag an die GEMA stellen müssten. Die Komponisten leben alle noch.
„Und wenn wir das ganz schnell ändern …?“, frage ich vorsichtig. Nützt nichts, sagen die Musiker, die Komponisten müssen seit 70 JAHREN tot sein. Also spielen sie zwei GEMA-freie Stücke ein, die überhaupt nicht zum Trailer passen. Dazwischen schneidet unser Tonmeister etwas Stille für die Pausen und wir schicken das ganze an Harald.
„Na ja“, sagt er, „mit der Musik kann ich leider nichts anfangen. Aber die Stille ist sehr schön.“
Das stellt uns vor ein neues Problem: Ist Stille GEMA-frei? Wenn man sich so umsieht und umhört in der hektischen Weihnachtszeit, würde ich sagen: Ja. Sie ist definitiv seit 70 Jahren tot.
Lieber Leser! Sollten Sie irgendwann den Trailer sehen und das Buch kaufen, und sollte es Ihnen nicht gefallen – dann streichen sie es einfach grün. Dann ist es weg.