Auf der Suche nach dem verlorenen Blog

Meine Mutter sagt, die Zeit ist ein Kreis, oder vielleicht eine Torte. Es ist immer gleich viel davon vorhanden, wenn man ein Stück für eine neue Sache benutzt, fehlt irgendwo wieder ein Stück, so dass man etwas anderes nicht mehr tun kann. Ich fürchte, dieser Blog gehört zu den Tortenstücken, die in letzter Zeit fehlen …
Neulich wollte ich einen Blog schreiben, aber da klingelten meine drei neuen Nachhilfeschüler, und ich verbrachte die nächste Stunde damit, die Worte SCHIFF und FISCH zu lesen (die kann ich jetzt ziemlich gut). Als sie weg waren, wollte ich einen Blog schreiben, aber dann fiel mir ein, dass ich noch einen Theatervorhang, ein Ungeheuer- und sieben Pflanzen-Kostüme nähen musste, und als ich damit fertig war und – richtig! – einen Blog schreiben wollte, bekam die Murmel einen mittleren Verzweiflungsanfall, weil sie das lila Fillypferd bei ihrer Babysitterin vergessen hatte. (Anmerkung für Nicht-Eltern: Fillypferde sind sehr kleine, sehr hässliche Einhörner aus Plastik. Es gibt sie auch in türkis und pink, was nicht erstaunt.) Also stieg ich ins Auto, stellte fest, dass die Babysitterin in den Urlaub gefahren war, und fuhr ein neues Fillypferd kaufen, weil die Murmel sonst nicht überlebt hätte. Sie befindet sich nämlich in der lila Glimmerphase, die ebenfalls sehr viel Zeit verschlingt. Allein die Zeit, in der ich ihr täglich erkläre, dass auch Prinzessinnen statt Kleidchen Jeans tragen, wenn sie im Matsch spielen! Manchmal kann die arme Murmelprinzessin gar nicht schlafen, weil sie keine goldene Krone besitzt, und letzte Nacht erwachte sie tränengebadet und schluchzte: „Glitzerbu-huuuch!“
Schnell rannte der Papa los, um ein rosaeingefärbtes Pixiebuch zu holen …
Die kleine Haselmaus kann bislang zwar nur ein Wort, nämlich das von einem zahnlosen Grinsen begleitet „Hööh“, aber ich hege den starken Verdacht, dass es „lila“ heißt.
Doch zurück zum Blog, den ich nicht schreibe. Gestern hätte ich ihn FAST geschrieben, ich kam von einer anstrengenden Theaterprobe zurück, zu Hause hatte Papa schon für das violette Glitzereis gesorgt, die Murmel saß friedlich im (lila) Kleid auf der Terrasse, und ich plante gerade, das darin badende Fillypferd aus meinem Kaffee zu fischen und endlich zu schreiben –
Da klingelte es. Vor der Tür stand mein Förderkind, das sich den kleinen Finger in der Haustür eingeklemmt hatte. Ich packte also die Murmel, die unbedingt mitwollte, beide Fillypferde, siebenundzwanzig Glitzerbücher, die kleine Haselmaus („hööh“, sagte sie) und das Förderkind ein und fuhr zur Notaufnahme, wo wir die nächsten Stunden vor der Röntgenabteilung verwarteten. Zum Glück gab es in der Spielekiste ein silbernes Plastikpferd mit goldener Mähne. Als wir mit geschientem Finger zurückkehrten, hätte ich beinahe einen Blog geschrieben. Aber die Murmel musste im Bett eine Pferdegeschichte hören, der Papa hatte einen Nervenzusammenbruch und saß irre kichernd mit einem Haufen matschiger Prinzessinenkleidchen in der Waschmaschine, die Haselmaus wollte spazieren gegangen werden und fünfundzwanzig Blogger mit lila Glitzer-Webseiten wollten Interviews zum Märchenerzähler mit mir machen.
In einem der Interviews bedankte sich jemand, dass ich „Zeit gefunden“ hätte, die Fragen zu beantworten. Interviewer wissen ja grundsätzlich mehr über einen als man selbst. Wo habe ich diese Zeit bloß gefunden? Ich kann mich nur erinnern, gesucht zu haben …
Immer wieder höre ich Leute sagen, sie hätten „Zeit verloren“. Liegen diese Zeit-Tortenstücke irgendwo herum, wo man sie aufsammeln kann? Oder zermatschen sie beim Fall auf den Boden in einzelne, unbrauchbare, klebrige Sekunden und zerquetschte Minuten? Morgen, gleich morgen, werde ich eine Zeit-Wünschelrute erfinden, mich auf ein rosa Plastikeinhorn setzen und losreiten, auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Wenn ich welche finde, schreibe ich vielleicht endlich einen Blog.