Alle Jahre wieder

Jedes Jahr, wenn Weihnachten drohend am Horizont auftaucht, begeben sich deutsche Hausfrauen in ihre Küche, tauschen Ehering gegen Schürze und stürzen sich todesmutig in den Kampf mit Mehl, Zucker und so abstrusen Dingen wie Hirschhornsalz, Natron oder Pottasche (bei Lebkuchen handelt es sich übrigens weniger um Gebäck als um ein physikalisches Großexperiment … erhitzen … rühren … mit Treibmittel versehen, dass beim Backen zu Gas und Wasser zerfällt … Vorsicht! Manchmal explodiert der Teig).
Auch ich bin im Grunde meines Herzens eine deutsche Hausfrau. Und so streife ich den Ehering ab, rühre und knete und stelle fest, dass ich jetzt den Ring in den Teig eingeknetet habe.
Während ich ihn suche, denke ich über das Phänomen nach, dass wir im Advent Kekse backen und dann versuchen, sie irgendwie wieder loszuwerden. Wir verschenken sie an Schwiegereltern oder Enkelkinder, verkaufen sie auf Wohltätigkeitsbasaren, stecken sie in Nikolaussocken und hängen sie an Nachbars Tür (welcher sich aber meist rächt und uns die eigenen Kekse an die Tür hängt). Jemand hat jetzt etwas erfunden, was „Weihnachten im Schuhkarton“ heißt; bei diesem Projekt verschickt man die Kekse an wehrlose Kinder in Drittweltländern.
Ich befreie mich aus einem Stück Teig, das sich um mich geschlungen hat, und schwelge wie alle deutschen Hausfrauen in Nostalgie: Als ich klein war, begann der Advent stets mit dem Mandeln-Pulen. Dazu weicht man die Mandeln ein, drückt auf ein Ende und lässt den Kern aus der Haut flutschen. Mit etwas Übung kann man Flutschweiten von bis zu vier Metern erzielen, und wir fanden die Mandeln oft noch Jahre später unter den Schränken. Zum Trocknen werden die Mandeln auf Handtücher gelegt, welche man gleichmäßig im ganzen Haus auf dem Fußboden verteilt, und zwar möglichst dort, wo des Öfteren Leute durchgehen. Zur Abwechslung flutschen dann die Leute, zum Beispiel die Treppe hinunter. Die vier Meter werden hier bisweilen übertroffen. Man könnte die Mandeln auch ohne Haut kaufen, aber das ist zu einfach. Schließlich mahlt man sie in einer laut röhrenden Küchenmaschine und verknetet sie mit Puderzucker, was so klebt, dass man die Masse nicht wieder von den Fingern bekommt und diese notfalls mitbacken muss.
Die Tradition der Marzipanherstellung stammt aus Königsberg; meine Familie floh damals von dort, angeblich vor den Russen, mir drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass sie vor dem Marzipan geflohen ist (erfolglos, wie sich zeigt).
Zu Studentenzeiten mahlte ich die Mandeln mit einem Fleischwolf, den ich aus unerfindlichen Gründen in meiner veganen WG gefunden hatte. Das dauert pro Mandel 17 Minuten.
Ich erinnere mich auch, wie meine Freundin und ich beim ersten Keksebacken ohne Eltern feststellten, dass man Zucker und Eier hätte schaumig rühren müssen. Wir hatten den Zucker aber schon mit dem Mehl verrührt und verbrachten die nächsten Stunden damit, beides wieder zu trennen.
Am leckersten waren die Kekse meiner Großmutter. Oder sie wären es gewesen, wenn man sie hätte essen können. Leider war das auf Grund ihrer sehr … standhaften Konsistenz unmöglich.Wir beschäftigten uns an den Weihnachtsabenden immer damit, auf steinharten Bärentatzen herumzulutschen. Nach dem Tod meiner Großmutter buk meine Mutter ganz normale, weiche Bärentatzen, aber keiner wollte sie essen; das Keks-Erleben war einfach nicht das gleiche. Soviel zur Nostalgie.
Inzwischen backe ich mit vier Förder- und zwei Kleinkindern und sauge statt zwei mal die Woche zwei mal am Tag. Alva überzieht fleißig Nougathörnchen mit Schokolade, in dem sie sie hineintaucht, ableckt, wieder hineintaucht, wieder ableckt und nach dem vierten Mal Ablecken aufs Blech legt. Den Rest der Verzierung isst sie direkt auf, was viel praktischer ist, als sie hinterher vom Keks zu nagen. Da sie sich sonst eher bodennah mit dem Teig beschäftigt, sauge ich jetzt zwei mal die Stunde.
Mein Mann beißt in einen Keks und verzieht das Gesicht. „Da if waf hartef brin“, erklärt er – und spuckt meinen Ehering aus. Während Lintje beschließt, auch verzieren zu helfen. Sie verziert den Boden – mit Fontainen von ausgespuckten Kekskrümeln. Ich sauge nun zwei mal die Minute.
„Was war denn das?“, fragt mein Mann. „Irgendwas hast du eingesaugt.“
„Ach“, sage ich, „das war der Ehering.“
Morgen, wenn keiner guckt, werde ich heimlich alle Kekse wegsaugen. Hah! Und wenn es mich packt, sauge ich vielleicht den Adventskranz, die Strohengelchen und den ganzen Weihnachtsfrieden mit weg.