Letzter Auftritt Mitternacht

Wir gehen spazieren, und der Halbmond steht am blauen Himmel.
Alvas sagt: „Den hat die Sonne aufgeschlüsselt und hat sich GANZ leise durch geschlichen und eine Hälfte GEKLAUT“.
Ich sage: „Nein, mein Kind. Das ist die Hörbuchfassung des Mondes.“
Es gibt aber noch einen dritten Grund, nämlich spielt die zweite Mondhälfte in meinem nächsten Kinderbuch mit. Da geht es um den Mondscheinzirkus, einen Zirkus voller Kinder, die von zu Hause abhauen, um auf höchst abenteuerliche Weise Geld zu verdienen. Dabei geht alles schief.
Und weil ich das prima finde, wenn alles schief geht, habe ich aus dem Buch gleich noch ein Theaterstück gemacht; bei dessen Proben auch alles schief geht.
Vier Wochen Theater statt Schule, jeden Vormittag.
Was wir alles tun, damit der Verlag das Buch nicht lesen muss, sondern es sich im Theater Greifswald ansehen kann!
LETZTER AUFTRITT: MITTERNACHT heißt das Stück. Ich fürchte, daraus wird LETZTE PROBE: MITTERNACHT, denn wenn das so weiter geht, müssen wir bis genau dann üben.
Es begann damit, dass die Lehrer und ich uns im Vorfeld über den Meterpreis von Spanplatten zerstritten – das Wort ist jetzt an der Schule tabu. Scheiße darf man sagen, Spanplatte nicht. Die S … gibt es trotzdem. Daraus basteln Dörte und Susi momentan einen Wald. Dorfhäuser und Segelschiff hingegen sind aus Gardinenstoff. All diese Kulissen verteilen sich auf drei Bühnen, hinten, seitlich und vorne – EINE Bühne kann ja jeder.
Um den Wagen auf die Bühne zu schieben, wollen wir zwei handliche fünf Meter lange Holzplanken benutzen. Die muss ich heute aus dem Schuppen holen und ins Auto laden.
– Davon haben wir übrigens nur noch eines. Um das andere Auto hat sich pünktlich zum Probenbeginn ein suiziadales Reh gewickelt. Das ist eigentlich nett von dem Reh, denn das völlig verknotete Nummernschild können wir prima im Stück benutzen, wo es um Autodiebe geht, die den Mondscheinzirkus verfolgen
Das Reh selbst kann man nicht mehr so gut verwenden, es ist doch etwas … verformt.
Unfälle gibt es auch sonst genügend: bei der zersägten Jungfrau spritzt das Blut – meines, als ich ein Loch in einen Karton und auch eines in meinen Finger schneide. Heute hat der Räuberhauptmann eine Bierflasche (obwohl aus Plastik) auf die Nase bekommen, Räuberin Nummer 6 hat sich fast mehrere Zehen gebrochen und Nummer 7, der beim Kämpfen gegen den Räuberhauptmann verlieren muss, verliert auch: er landet mit dem Kopf etwas vehement auf dem Bühnenboden. Ganz so schlimm wie bei dem Reh ist es nicht, ich hoffe zumindest, wir müssen Nummer 7 nicht gleich ganz wegschmeißen.
Währenddessen entbrennt auf der Bühne – außerhalb des Textbuches – ein ernsthafter Streit um unsichtbare Schokolade. Die Freundin des Räuberhauptmannes geht auf die Barrikaden, weil sie für ihre drei einhalb Auftritte MINDESTENS vier Kostüme braucht, und den Zirkuswagen haben wir jetzt leider falsch rum zusammengebaut. Die Räder sollten doch unten hin …
Täglich transportiere ich Tonnen von Kleidern, Jonglierbällen, -Ringen, -Tüchern, -Tellern, Hüten, Sonnenbrillen und Ästen zwischen der Schule und zu Hause hin und her; einmal habe ich vergessen, mich selbst einzupacken, das ist aber keinem aufgefallen.
Beim Sonntagsfrühstück zwischen Kisten voller Zirkusutensilien zeigt die Murmel angeekelt auf das Ei mit Schnittlauch: „Nein!“, sagt sie, „ich will kein Eierrühr mit Grünz!“
Lintje isst sowieso lieber die Jonglierbälle auf.
In der ganzen Hektik schlage ich mich schließlich selbst mit der der Ecke der Autotür KO, und auf meiner Stirn prangt jetzt eine wunderschöne lila Beule. An diesem Tag erhalte ich per Post eine selbstgebastelte Urkunde: Ich erhalte hiermit den Fantasypreis (oder so) des ersten deutschen Fantasy Clubs. Nämlich für meine Bücher, die ich im Rahmen meines „Manifest des Sousrealismus“ geschrieben habe. Das Manifest beginnt mit dem Satz: Nein, ich schreibe keine Fantasy.
Auf dem Kopf der Urkunde ist ein Einhorn abgebildet, und obwohl ich wirklich gerührt bin, glaube ich doch, dass der erste deutsche Fantasyclub einen sehr subtilen Humor hat. In Wirklichkeit habe ich den Preis für meine lila Beule bekommen, denn ich bin das erste deutsche Einhorn. Vielleicht kann ich mich noch in das Theaterstück einbauen?
Liebes Publikum! Ich meine, liebe Leser. Kommen Sie doch zu einer der Aufführungen, die Termine stehen auf meiner Webseite beim täglichen Zirkus-Blog. Und falls es Ihnen nicht gefällt (wehe), bringen Sie statt faulen Tomaten etwas Eierrühr mit Grünz mit, das sie auf uns werfen können.