Der kleine Reiseberater – Marokkos pittoreske Bergwelt

Der Atlas
ist unhandlich. Immer schon gewesen.
Zu meiner Schulzeit war er von Dierke und musste zu jeder Geographiestunde mitgeschleppt werden. Lernen taten wir daraus, wie man Wirtschaftsstandorte in Niederbayern kennzeichnet. Wo Norden oder Süden ist, habe ich erst nach dem Abitur erfahren.
Und neulich habe ich gelernt, dass der wahre Atlas in Marokko liegt und ein Gebirge ist (falls Sie auch Geographie in Bayern hatten: Marokko ist von Deutschland aus gesehen UNTEN und liegt in Afrika. Afrika ist ein anderer Kontinent. Was ein Kontinent ist, weiß ich nicht).
„Wir wandern im hohen Atlas“, erklärt mir mein Mann. „Daneben liegt der mittlere Atlas, der ist mittelhoch, und dann gibt es noch den Antiatlas.“
„Ach“, sagte ich, „und was ist der?“
„Der ist dagegen“, sagt mein Mann.
Ich bin dafür, und zwar fürs Wandern, denn frische Luft ist ja gesund. Hoffentlich ist es nicht zu heiß. Wir beginnen unsere Wanderung damit, dass wir eine Wanderkarte suchen.
„Ich kann aber keine Karten lesen!“, sage ich.
Das macht nichts, denn die Marokkaner können auch keine schreiben.
Alles, was wir finden, sind blässlich kopierte Militärkarten aus dem vorletzten Krieg, die ein völlig anderes Land zeigen.
Schließlich hat man Mitleid mit uns und gibt uns einen Bergführer mit: Maruan.
Maruan spricht Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch – und zwar alles auf einmal. Uns bringt er Tamasirt bei, die Berbersprache der Berbe. Äh, der Berge. Zuerst glauben wir, er hätte Husten, finden aber dann heraus, dass er nur ab und zu Bemerkungen auf Arabisch macht.
So ziehen wir los, ins Jebirge: Hoch, höher und noch höher. Es ist schön frisch.
Vor allem gibt es Ziege und Schafe, die ich allerdings nicht unterscheiden kann. Ich glaube, es ist ein und dasselbe Tier.
Am Abend rasten wir in einer GANZ NEUEN Herberge, auf die die Marokkaner sehr stolz sind. Sie ist so neu, dass wir durch frischen Beton waten müssen, um sie zu erreichen. Ein kalter Wind pfeift über die Baustelle, und gegessen wird im Keller, denn da ist es (ein bisschen) wärmer. Wir ziehen alles an, was wir haben, inklusive Termoleggins, und wickeln uns die Bettdecken um den Kopf.
Unser Geld verwahrt mein Mann im HOCHGEHEIMEN GELDGURT, den er nachts unter die Matratze legt, wo er ihn am zweiten Tag umsichtig vergisst.
Leider fällt uns das erst auf dem nächsten Gipfel auf.
Maruan geht heldenhaft zurück, um ihn zu holen, und von nun an ruft er jedem, den wir treffen, auch über große Entfernungen hinweg die Geschcihte vom HOCHGEHEIMEN GELDGURT zu. In einigen Jahren werden sie vermutlich in der Region Balladen darüber singen und Repliken für Touristen davon anfertigen.
Übrigens haben wir auch einen Koch. Monsieur Ali, der in seinem kleinen Rucksack alle Zutaten schleppt. Da seine Kleider nicht mehr in den Rucksack passen, trägt er vier Hosen und drei Jacken übereinander, die er zwischendurch immer aus und anzieht.
Koch tut er meistens Fladenbrot mit Tomatenscheiben.
Leider sind wir durch die Geschichte mit dem HOCHGEHEIMEN GELDGURT spät dran, und im nächsten Ort sind gerüchtweise 20 Franzosen eingefallen, so dass wir rennen müssen, um noch ein Zimmer zu bekommen. Über Berge rennt es sich schlecht. Mein Mann, der den schwereren Rucksack hat, bleibt etwas zurück, und ich lege an jeder Weggabelung für ihn Seiten aus meinem Notizbuch unter Steine. Einmal hinterlasse ich ihm auch unsere Wasserflasche am Wegesrand, die er zwar photographiert, aber nicht bemerkt.
Als wir im Dorf ankommen, haben die 20 Franzosen es schon komplett eingenommen. Wir beziehen ein Zimmer nebenan; ohne so lästige Dinge wie fließend Wasser.
Die Franzosen haben 15 Mulis, 3 Köche und 7 Reiseführer, die singen und trommeln die ganze Nacht (auch die Mulis), und da sind wir nur ein KLEINES bisschen schadenfroh.
Monsieur Ali kocht abends Tagine, das geht so: Man nimmt Kartoffeln, Gemüse (möglichst ohne Geschmack) und etwas überfahrene Ziege, kocht alles sieben bis acht Stunden und servierte es dann auf einem malerischen Tonteller. Gewürze gibt es in Marokko eine Menge: auf den Märkten, in den Läden, wildwachsend am Berg – im Essen allerdings befinden sie sich NICHT. Auf dem Tisch steht eine große weiße Ketschupflasche, die Salz enthält. Man muss sie umdrehen und kurz und ruckartig daraufdrücken. Dann kommt das Salz auch kurz und ruckartig herausgeschossen, so dass man meistens den Ärmel seines Nachbarn salzt.
Am nächsten Tag vergessen wir keinen Bauchgurt. Dafür meine frisch gewaschene Wäsche. Das Gepäck wird zunehmend leichter.
Ach ja – die Landschaft? Na ja. Recht bergig, wie mir scheint. Weiter oben gibt es vor allem Steine. Hauptsächlicher Bewuchs: Steine (man sieht auch den einen oder anderen Felsen). Wir keuchen über Pass um Pass, und wenn wir oben sind, genießen wir im eisigem Wind den Ausblick auf – Steine.
Zu Hause kann man auch ganz schön spazieren gehen.
Der letzte Tag unserer Wanderung ist eine „hübsche, große Piste“, wie Maruan sagt.
Die Piste besteht aus – richtig – Steinen, und zwar aus losen. Wir balancieren mehrere Stunden lang mit äußerster Konzentration die steile Rollsplitt-Strecke hinunter. Warum ist diese Piste da?, fragen wir. Ist sie auf geheime Weise natürlich entstanden? Ein geographisches Phänomen? Nö, sagt Maruan. Die haben sie in den Berg gesprengt, um einen Handymast auf den Gipfel zu stellen.
Ganz schön anstrengend, da runter zu gehen, was? Aber die Franzosen, fügt er zufrieden hinzu, DIE mussten hier gestern RAUF, und Franzosen konnte er sowieso noch nie leiden.
Die Straße an unserem letzten Wandertag ist schöner. Das Schönste an ihr ist der Regen. Wir waten den ganzen Tag durch tiefe, schlammige Pfützen. Ab und zu fahren Autos vorbei, aus denen an allen Seiten Ziegen und Menschen heraushängen (sie packen hier ja die Autos ähnlich wie ich meinen Rucksack), und die Reifen spritzen uns von oben bis unten nass. Das Highlight des Tages stellt eine kaputte französische Fabrik dar. Was haben die denn hergestellt?, frage ich vorsichtig.
Steine, sagt Maruan.
Am Ende schwimmen wir nach Ijoukak hinein: ein Ort, der genauso aussieht, wie er heißt. Zumindest bei Regen.
Maruan wringt uns aus und setzt uns in ein Taxi, das uns durch den Rest des Gebirges bringt. Ab und zu liegen stark verformte Autos am Straßenrand, doch niemand regt sich darüber auf. Es ist offenbar normal, dass man an einem Regentag im Atlas pro Fahrt zwei oder drei Autos einfach verbraucht.
Zum Abschied vergessen wir unsere Regenjacken im Taxi.
„Warum kommen die Deutschen eigentlich nach Marokko zum Wandern?“, fragt der Taxifahrer. „Haben die zu Hause keinen Regen?“
„Doch“, sagen wir. „Aber nicht so schöne Steine.“