Guatemala

Eine Freundin von uns lebt zur Zeit in Guatemala. Sie ist ein guter Mensch; sie arbeitet dort als Ärztin für eine christliche Organisation. Carolin und ich sind auch gute Menschen. Wir werden sie besuchen. Wir stellen uns vor, wie wir ihr etwas Schokolade mitbringen, dann in wehenden, bunten Kleidern über die Vulkane wandeln und am Atitlan-See Romane lesen … Brauchst du was bestimmtes?, schreiben wir unserer Freundin.
Ach, eigentlich gar nichts, antwortet sie. Nur ein paar Medikamente für die Leute hier … Ihr bekommt ein Päckchen von der Organisation, für die ich arbeite. Ach, so ein kleines Päckchen, das können wir gut mitnehmen. Die Organisation mailt uns. An welche Adresse sie die beiden Pakete schicken sollten? Pakete? Zwei? Na, wir sind ja gute Menschen. Ich packe schon mal die wehenden bunten Kleider und die Romane ein und lasse etwas Platz für die Medikamente.
Dann bekommen wir noch eine E-mail. Unsere Freundin bräuchte noch ein paar andere Medikamente, die müssten wir im Internet bestellen. Ich packe einen Teil der wehenden bunten Kleider wieder aus und dafür vier große Plastikcontainer voll Tabletten ein. Wir erhalten eine weitere Mail: Unsere Freundin hätte gar nichts mehr zum Lesen … Ich bin ein guter Mensch. Ich packe fast alle meine Bücher aus und Bücher für sie ein.
Als ich von der letzten Lesereise zurückkomme, sagt mein Mann: Deine Frachtlieferung ist gekommen. Im Wohnzimmer steht eine Kiste von einem Meter Höhe. Haben die in Guatemala keine Mullbinden? Und warum soll ich 217 Schwangerschaftstests mitnehmen? Pflanzliche Placebo-Tabletten? Und 39 Rollen Klebeband? Ich rufe Carolin an. Sie ist gerade dabei, 142 Flaschen Kochsalzlösung einzupacken. Auch sie ist ein guter Mensch. “Übrigens”, sagt sie. “Unsere Freundin hat uns zum Helfen bei zehn Schul-Reihenuntersuchungen angemeldet, und bei der Sprechstunde auf den Dörfern. Wir sollen Spiele für die Kinder da mitnehmen …”
Ich packe die Zahnbürste aus; dafür das Stethoskop und zwei Kilo Spiele ein. Dann beginne ich, hektisch mein Medizin-Spanisch aufzubessern. Carolin muss es von vorne lernen. Als deutsche Kinderärztin hat sie Zeit für sowas – sie lernt auf dem Klo und nachts. Da kann ich nicht über die Schwangerschaftstests meckern. Also packe ich den Rest meiner Romane aus. Es passt nicht alles in den Rucksack. Ich packe den Rest der bunten Kleider aus – wir werden ohnehin keine Zeit haben, auf Vulkanen herumzuwandeln. Es passt immer noch nicht alles in den Rucksack! Am Morgen des Abflugs ermanne ich mich mit einem Schrei und wickle mich statt in Kleider von Kopf bis Fuß in die übrigen Mullbinden. Ich hänge mir die Klebebandrollen an einer Kette um den Hals und schlucke alle Tabletten, die nicht mehr in den Rucksack passen, samt Alu-Hülle herunter. Und so steige ich ins Flugzeug, unter dem Arm als Ferienlektüre 1025 Beipackzettel. Ich bin ein guter Mensch.