Andamanie

Die Andamanen sind eine bewaldete Inselgruppe im indischen Ozean, noch verschont vom Tourismus, voller exotischer Vögel, Elefanten, afrikanisch stämmiger Eingeborener und Salzwasserkrokodile. Schreibt unser Reiseführer. Tatsache ist, dass unser Reiseführer noch nie auf den Andamanen war.
Wir kommen auf dem Flugplatz in Port Blair an und müssen zunächst einen fünfseitigen Antrag ausfüllen – so wie die hundert anderen Touristen auch. Sodann erhalten wir jeder ein Permit; eine Erlaubnis, die Inseln zu besichtigen. Port Blair ist laut und stinkt. Macht nichts, wir fahren hinaus in den Strandort Wandoor. Von dort aus kann man per Boot eine Gruppe unberührter Inselchen besuchen, ein Kleinod des Naturschutzes.
Das Hotel am Strand, das unser Reiseführer beschreibt, existiert nicht, aber wir finden eine kleine Absteige an einem völlig anderen Ort, wo wir brav die Nummern unserer Permits ins Gästebuch eintragen. Am nächsten Morgen pünktlich um 5 Uhr stellen wir uns vor einem kleinen Bootshaus an. Bis 8 Uhr geschieht nichts. Dann kommen mehrere Busladungen indischer Touristen und drängen uns aus der Schlange, und nach zwei Stunden Ellenbogenarbeit erreichen wir das Schalterfenster, wo wir die Nummern der Permits, Visa, Pässe und unsere Schuhgrößen angeben und jeder vier Formulare ausfüllen.
Danach steigen wir mit den indischen Touristen auf ein motorisiertes Schiff zu einer der vielen unberührten Inseln. Vorher werden wir allerdings nach Plastiktüten durchsucht. Plastiktüten sind nämlich wegen des Naturschutzes auf den Andamanen verboten. Die Inder essen und trinken auf dem Schiff, plastiktütenfrei, und werfen nur ihre Plastikflaschen, Plastikfolien und Plastikeinwickelpapiere aus dem Fenster.
Auf der unberührten Insel ankert unser Schiff neben vier anderen. Hier gibt es einen Schwimmwesten-Verleih, und die indischen Familien begeben sich sämtlich in leuchtendem Orange zum Plantschen und Lärmen ins Wasser. Wir schnorcheln ein wenig abseits, wo das Unterwasserleben sich farbenprächtig um uns entfaltet – violette Seesterne, gelb-blau gestreifte Fische, rote Korallen. Sie scheinen sich nicht am fröhlichen Treiben in der Nähe zu stören – vielleicht liegt es daran, dass Korallen und Seesterne taub sind. (Die Fische inzwischen wahrscheinlich auch). Nachdem wir die öffentlichen Toiletten und den malerischen Müll im Urwald bewundert haben, kehren wir zurück nach Port Blair, von wo aus Schiffe auf die anderen unberührten Inseln fahren.
Um eine Karte für eine Fähre zu ergattern, muss man sich allerdings drei Stunden anstellen. Als wir es geschafft haben, an die Spitze der Schlange zu rücken, stellen wir fest, dass wir hier eine beglaubigte Kopie unseres Permits und unserer Pässe brauchen. Wir fahre zu einem Copyshop, lassen sicherheitshalber gleich unsere Geburtsurkunden und Flugtickets in siebenfacher Ausführung mitkopieren und schaffen es schließlich auf die nächste Insel: Havelock. Hier gibt es die meisten Touristen, und wir stellen bald auch fest, weshalb: Man kommt von dort nicht mehr weg. Alle Fährtickets sind auf fünf Tage im Voraus ausverkauft, und die einzige Pension der ruhigen Nachbarinsel Neil ist angeblich voll. Bezeichnender Weise scheint niemand je auf Neil gewesen zu sein.
Wir füllen ein fünfseitiges Dokument aus, mieten Räder und machen uns auf den nach Reiseführer „kurzen und erholsamen Weg“ zu einem einsamen Strand. Der Weg führt durch malerische Berge, hinauf und hinunter. Na ja, eher hinauf. Schwitzend schieben wir die Räder durch die Mittagshitze, Stund um Stund … am einsamen Strand gibt es eine ganze Straße voller Andenkenbuden und eine Menge Busse, die gerade mit vielen indischen Touristen angekommen sind.
Tags darauf versuchen wir es mit einem anderen Strand, und der menschenleere Urwaldpfad führt und zu einem einsamen … Sumpf. Als wir endlich den zugehörigen Strand finden, tritt gerade die Flut ein und überschwämmt ihn, die indischen Reisegruppen, die mit bequemen Motorbooten gekommen sind, fahren soeben ab.
Bitte, versuchen wir es mit Muschelnsammeln vor unserer Pension. Dumm nur, dass die Muscheln immer weggehen, sobald man sie sammeln möchte. Sie sind sämtlich bewohnt von Einsiedlerkrebsen, und ich glaube, einen von ihnen sagen zu hören: „Um hier Muscheln zu sammeln, müssen Sie erst ein siebenseitiges Dokument ausfüllen und eine Kopie der Heiratsurkunde ihrer Großeltern im Sand vergraben …“ Die nächsten Tage verbringen wir damit, die Krebse mit indischem Pop Corn zu füttern, das aussieht, als würde es nachts leuchten. Ob die Krebse jetzt auch nachts leuchten?
Schließlich kehren wir in Ermangelung anderer Fährtickets zurück nach Port Blair und fahren mit dem Bus hinauf zur nächsten Insel, wo die afrikanischen Eingeborenen leben. An jedem Busstop gibt es Tee in kleinen Plastikbechern, die man nach Gebrauch in den Urwald wirft. Militärmotorräder führen die Busse durch den Dschungel, wo die Eingeborenen stehen und winken. Manche von ihnen machen auch Morgengymnastik auf der Asphaltstraße, und ich glaube, einige gesehen zu haben, die gerade mit der Herstellung von Plastik oder Formularen beschäftigt waren …
Das winzige Interview Island, sagt unser Reiseführer, hat einen seltsamen Namen, ist aber der Höhepunkt der Andamanen, wenn man „wildlife“ beobachten möchte. Sie wird nur von einer Gruppe Wildhütern bewohnt, die dort die Krokodile, Elefanten und seltenen Schwalbenarten hüten.
Wir tragen uns auf der nächstgrößeren Insel in einem Wildlife-Conservancy-Office in sechs unterschiedliche Bücher ein, bezahlen eine Gebühr dafür, dass wir noch dreizehn andere Dokumente ausfüllen dürfen, und besteigen gespannt um 5 Uhr morgens ein kleines Holzboot. Der Fischer, dem es gehört, fährt uns gegen 8 Uhr an malerischen Mangrovenwäldern vorbei. Wir würden den Fischer gern fragen, ob dort Vögel wohnen, aber das ohrenbetäubende Motorengeknatter macht jede Kommunikation unmöglich.
Auf Interview Island führen uns die Wildhüter gleich in den Dschungel und scheuchen uns – rasch, rasch! – bis ans andere Ende der Insel. Sie sind mit großen Gewehren bewaffnet, um uns vor den fleischfressenden Säbelzahnelefanten zu schützen. Die Gewehre halten sie allerdigns verkehrt herum, und Munition tragen sie auch keine; ein Glück für die Elefanten. Unklar bleibt, weshalb wir so rennen. Haben wir eine Verabredung mit den Schwalben? Kommen die Krokodile nur um eine bestimmte Uhrzeit an Land? Unser Ziel ist dann weder ein Krokodil- noch ein Schwalbenbrutplatz, sondern ein verfallenes Haus. Das war die alte Forschungsstation, teilt man uns mit. Die Elefanten haben sie einfach kaputt gemacht. Die blöden Elefanten haben auch jede Menge Plastikmüll hinterlassen, zerbrochene Flaschen, Spritzen, Blisterstreifen und alte Elektrogeräte. Wir picknicken mitten im Müll und tragen uns mit den Nummern unserer Permits, Visa, Pässe, Blutgruppen und Sehstärken ins Gästebuch ein. Auf dem Rückweg singen und tanzen die Wildhüter laut zur Musik ihrer Handys. Einmal sehen wir beinahe ein Reh, aber es läuft weg, und das ist doch, finden alle, sehr erstaunlich.
Das faszinierendste Tier der Andamanen ist übrigens die Seegurke: eine Art dicker, bräunlich-länglicher Wurst die auf dem Meeresboden liegt und sonst nichts tut. Sie hat sich bis jetzt auf allen Inseln gehalten, da sie immun ist gegen Plastikmüll, blind, taub und zu nichts zu gebrauchen. Die Andamanier sind sehr stolz auf ihre Seegurken, und die Inseln sind definitiv eine Reise wert, um diese einmalige Spezies zu bewundern.
Falls sie uns besuchen möchten, liebe Leser – wir sind noch da. Leider haben wir nämlich die nötigen Kopien unserer Abiturzeugnisse vergessen, die zur Ausreise nötig sind. Und noch sind wir beim Ausfüllen des Formulars für eine zeugnislose Ausreise erst auf Seite 154 angekommen.